Arbeitsblatt: Peter Bichsel- Die Erde ist rund
Material-Details
Text
Deutsch
Leseförderung / Literatur
7. Schuljahr
4 Seiten
Statistik
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128
06.02.2013
Autor/in
Flurina Cathomas
Land: Schweiz
Registriert vor 2006
Textauszüge aus dem Inhalt:
Peter Bichsel Die Erde ist rund Ein Mann, der weiter nichts zu tun hatte, nicht mehr verheiratet war, keine Kinder mehr hatte und keine Arbeit mehr, verbrachte seine Zeit damit, dass er sich alles, was er wusste, noch einmal überlegte. Er gab sich nicht damit zufrieden, dass er einen Namen hatte, er wollte auch genau wissen, warum und woher. Er blätterte also tagelang in alten Büchern, bis er darin seinen Namen fand. Dann stellte er zusammen, was er alles wusste, und er wusste dasselbe wie wir. Er wusste, dass man die Zähne putzen muss. Er wusste, dass Stiere auf rote Tücher losrennen und dass es in Spanien Toreros gibt. Er wusste, dass der Mond um die Erde kreist und dass der Mond kein Gesicht hat, das das nicht Augen und Nasen sind, sondern Krater und Berge. Er wusste, dass es Blas-, Streich- und Schlaginstrumente gibt. Er wusste, dass man Briefe frankieren muss, dass man rechts fahren muss, dass man die Fussgängerstreifen benützen muss, dass man Tiere nicht quälen darf. Er wusste, dass man sich zur Begrüssung die Hand gibt, dass man den Hut bei der Begrüssung vom Kopf nimmt. Er wusste, dass sein Hut aus Haarfilz ist und dass die Haare von Kamelen stammen, dass es einhöckrige und zweihöckrige gibt, dass man die einhöckrigen Dromedare nennt, dass es Kamele in der Sahara gibt und in der Sahara Sand. Das wusste er. Er hatte es gelesen, es wurde ihm erzählt, er hatte es im Kino gesehen. Er wusste: In der Sahara gibt es Sand. Er war zwar noch nie da, aber er hatte gelesen darüber, und er wusste auch, dass Kolumbus Amerika entdeckt hat, weil er daran glaubte, dass die Erde rund ist. Die Erde ist rund, das wusste er. Seit man das weiss, ist sie eine Kugel, und wenn man immer geradeaus geht, kommt man wieder zurück an den Ort, von dem man ausgegangen ist. Nur sieht man nicht, dass sie rund ist, und deshalb wollten die Leute das lange nicht glauben, denn wenn man sie anschaut, ist sie gerade, oder sie geht hinauf oder hinunter, sie ist mit Bäumen bepflanzt und mit Häusern bebaut, und nirgends biegt sie sich zu einer Kugel; dort, wo sie es tun könnte, auf dem Meer, dort hört das Meer einfach auf, endet in einem Strich, und man sieht nicht, wie sich das Meer und wie sich die Erde biegt. Es sieht so aus, als würde die Sonne am Morgen aus dem Meer steigen und abends zurücksinken ins Meer. Doch wir wissen, dass es nicht so ist, denn die Sonne bleibt an ihrem Ort, und nur die Erde dreht sich, die runde Erde, jeden Tag einmal. Das wissen wir alle, und der Mann wusste das auch. Peter Bichsel Die Erde ist rund Er wusste, wenn man immer geradeaus geht, kommt man nach Tagen, Wochen, Monaten und Jahren an denselben Ort zurück; wenn er jetzt von seinem Tisch aufstände und wegginge, käme er, später, von der anderen Seite wieder zu seinem Tisch zurück. Das ist so, und man weiss es. „Ich weiss, sagte der Mann, „wenn ich immer geradeaus gehe, komme ich an diesen Tisch zurück. „Das weiss ich, sagte er, „aber das glaube ich nicht, und deshalb muss ich es ausprobieren. „ Ich werde geradeaus gehen, rief der Mann, der weiter nichts zu tun hatte, denn wer nichts zu tun hat, kann geradeso gut geradeaus gehen. Nun sind aber die einfachsten Dinge die schwersten. Vielleicht wusste das der Mann, aber er liess sich nichts anmerken und kaufte sich einen Globus. Darauf zog er einen Strich von hier aus rund herum und zurück nach hier. Dann stand er vom Tisch auf, ging vor sein Haus, schaute in die Richtung, in die er gehen wollte, und sah da ein anderes Haus. Sein Weg führte genau über dieses Haus, und er durfte nicht um es herum gehen, weil er dabei die Richtung hätte verlieren können. Deshalb konnte die Reise noch nicht beginnen. Er ging zurück an seinen Tisch, nahm ein Blatt Papier und schrieb darauf: „ Ich brauche eine grosse Leiter. Dann dachte er daran, dass hinter dem Haus der Wald beginnt, und einige Bäume standen mitten auf seinem geraden Weg, die musste er überklettern, deshalb schrieb er auf sein Blatt: „ Ich brauche ein Seil, ich brauche Klettereisen für die Füsse. Beim Klettern kann man sich verletzen. „Ich brauche eine Taschenapotheke, schrieb der Mann. „Ich brauche einen Regenschutz, Bergschuhe und Wanderschuhe, Stiefel und Winterkleider und Sommerkleider. Ich brauche einen Wagen für die Leiter, das Seil und die Eisen, für Taschenapotheke, Bergschuhe, Wanderschuhe, Winterkleider, Sommerkleider. Jetzt hatte er eigentlich alles; aber hinter dem Wald war ein Fluss, darüber führte zwar eine Brücke, aber sie lag nicht auf seinem Weg. „Ich brauche eine Schiff, schrieb er, „und ich brauche einen Wagen für das Schiff und ein zweites Schiff für die beiden Wagen und einen dritten Wagen für das zweite Schiff. Da der Mann aber nur einen Wagen ziehen konnte, brauchte er noch zwei Männer, die die anderen Wagen ziehen, und die zwei Männer brauchten auch Schuhe und Kleider und einen Wagen dafür und jemanden, der den Wagen zieht. Und die Wagen mussten alle vorerst einmal über das Haus; dazu braucht man einen Kran und einen Mann, der den Kran führt, und ein Schiff für den Kran und einen Wagen für das Schiff und einen Mann, der den Wagen für das Schiff für den Kran zieht, und dieser Mann brauchte einen Wagen für seine Kleider und jemanden, der diesen Wagen zieht. Peter Bichsel Die Erde ist rund „Jetzt haben wir endlich alles, sagte der Mann, „jetzt kann die Reise losgehen, und er freute sich, weil er jetzt gar keine Leiter brauchte und auch kein Seil und keine Klettereisen, weil er ja einen Kran hatte. Er braucht viel weniger Dinge: Nur eine Taschenapotheke, einen Regenschutz, Bergschuhe, Wanderschuhe, Stiefel und Kleider, einen Wagen, ein Schiff, einen Wagen für das Schiff und ein Schiff für die Wagen und einen Wagen für das Schiff mit dem Wagen. Zwei Männer und einen Wagen für die Kleider der Männer und einen Mann, der den Wagen zieht, einen Kran und einen Mann für den Kran und ein Schiff für den Kran und einen Wagen für das Schiff und einen Mann, der den Wagen für das Schiff mit dem Kran zieht, und einen Wagen für seine Kleider und einen Mann, der den Wagen zieht, und der kann seine Kleider auch auf diesen Wagen tun und die Kleider des Kranführers auch; denn der Mann wollte möglichst wenige Wagen mitnehmen. Jetzt brauchte er nur noch einen Kran, mit dem er den Kran über die Häuser ziehen konnte, einen grösseren Kran also, dazu Kranführer und ein Kranschiff und einen Kranschiffwagen, einen Kranschiffwagenzieher, einen Kranschiffwagenzieherkleiderwagenzieher, der dann auch seine Kleider und die Kleider des Kranführers auf den Wagen laden konnte, damit es nicht zu viele Wagen braucht. Er brauchte also nur zwei Kräne, acht Wagen, vier Schiffe und neun Männer. Auf das erste Schiff kommt der kleine Kran. Auf das zweite Schiff kommt der grosse Kran, auf das dritte Schiff kommen der erste und der zweite Wagen, auf das vierte Schiff kommen der dritte und der vierte Wagen. Er brauchte also noch ein Schiff für den fünften und sechsten Wagen und ein Schiff für den siebten und achten Wagen. Und zwei Wagen für diese Schiffe. Und ein Schiff für diese Wagen Und einen Wagen für dieses Schiff. Und drei Wagenzieher. Und einen Wagen für die Kleider der Wagenzieher. Und einen Wagenzieher für den Kleiderwagen. Und den Kleiderwagen kann man dann auf das Schiff laden, auf dem erst ein Wagen steht. Dass er für den zweiten grossen Kran einen dritten noch grösseren braucht und für den dritten einen vierten, einen fünften, einen sechsten, daran dachte der Mann gar nicht. Aber er dachte daran, dass nach dem Fluss die Berge kommen und dass man die Wagen nicht über die Berge bringt und die Schiffe schon gar nicht. Die Schiffe müssen aber über die Berge, weil nach dem Berg ein See kommt, und er brauchte Männer, die die Schiffe tragen und Schiffe, die die Männer über den See bringen, und Männer, die diese Schiffe tragen, und Wagen für die Kleider der Männer und Schiffe für die Wagen der Kleider der Männer. Peter Bichsel Die Erde ist rund Und er brauchte jetzt ein zweites Blatt Papier. Darauf schrieb er Zahlen. Eine Taschenapotheke kostet 7 Franken 20 Rappen, ein Regenschutz 52 Franken, Bergschuhe 74 Franken, Wanderschuhe kosten 43 Franken, Stiefel kosten etwas und Kleider kosten. Ein Wagen kostet mehr als all das zusammen, und ein Schiff kostet viel, und ein Kran kostet mehr als ein Haus, und das Schiff für den Kran muss ein grosses Schiff sein, und grosse Schiffe kosten mehr als kleine, und ein Wagen für ein grosses Schiff muss ein riesengrosser Wagen sein, und riesengrosse Wagen sind sehr teuer. Und Männer wollen verdienen bei ihrer Arbeit, und man muss sie suchen, und sie sind schwer zu finden. Das alles machte den Mann sehr traurig, denn er war inzwischen 80 Jahre alt geworden, und er musste sich beeilen, wenn er noch vor seinem Tod zurück sein wollte. So kaufte er sich dann doch nichts anderes als eine grosse Leiter, er lud sie auf die Schulter und ging langsam weg. Er ging auf das andere Haus zu, stellte die Leiter an, prüfte, ob sie auch richtig Halt habe und stieg dann langsam die Leiter hoch. Da erst ahnte ich, dass es ihm ernst war mit seiner Reise, und ich rief ihm nach: „Halt, kommen Sie zurück, das hat keinen Sinn. Aber er hörte mich nicht mehr. Er war bereits auf dem Dach und zog die Leiter hoch, schleppte sie mühsam zum Dachgiebel, liess sie auf der andern Seite hinunter. Er schaute nicht einmal mehr zurück, als er über den Giebel des Daches stieg und verschwand. Ich habe ihn nie mehr gesehen. Das geschah vor zehn Jahren, und damals war er achtzig. Er müsste jetzt neunzig sein. Vielleicht hat er es eingesehen und seine Reise aufgegeben, noch bevor er in China war. Vielleicht ist er tot. Aber hie und da gehe ich vor das Haus und schaue nach Westen, und ich würde mich doch freuen, wenn er eines Tages aus dem Wald träte, müde und langsam, aber lächelnd, wenn er auf mich zukäme und sagte: „Jetzt glaube ich es, die Erde ist rund.