Arbeitsblatt: Vergleich von zwei Kulturen

Material-Details

Text einer Türkin, die in Deutschland lebt, über die beiden Kulturen
Deutsch
Textverständnis
8. Schuljahr
5 Seiten

Statistik

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583
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03.04.2013

Autor/in

Ueli Mägli
Land: Schweiz
Registriert vor 2006

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Textauszüge aus dem Inhalt:

«Meine kleine Dönertasche» Wie sagt eine Deutsch-Türkin ihren Eltern, dass sie schwanger ist und nicht heiraten möchte? Einsichten über die Verschmelzung der Kulturen. Von Hatice Akyün* Wenn ich mal wieder nicht weiss, wer ich bin, und das geschieht immer wieder, dann setze ich mich vor dieses bräunlich-verblichene Foto und betrachte es, wie andere Leute ein Kunstwerk betrachten. Eine Frau mit Kopftuch steht vor einer Steinwand. Sie hat ein energisches Gesicht, trägt lange Röcke übereinander. Auf dem einen Arm hält sie ein Kind, ein zweites steht neben ihr. Alle drei blicken ernst. Es wirkt wie ein Bild aus dem vorletzten Jahrhundert. Dabei ist es nicht mal vierzig Jahre alt. Das Foto zeigt meine Mutter, meine ältere Schwester Gönül und mich. Diese Aufnahme ist das Bild meines Lebens. In den langen Wochen, als ich darüber nachdachte, wie ich meinen Eltern meinen neuen Freund vorstellen sollte, sass ich häufig vor dem Foto und sprach zu meiner Mutter und zu meinem Vater. Und wie sollte ich ihnen erklären, dass ich schwanger war, aber nicht verheiratet? Die Geschichte, die meine Mutter mir zu dem Bild erzählte, klang wie ein Märchen. Es war die Geschichte eines einfachen Ehepaares aus Akpinar Köyü. Der Mann verliess sein Dorf für ein besseres Leben. Seine Reise führte ihn nach Duisburg, in ein Bergwerk, und später holte er seine Ehefrau und seine zwei Kinder nach. Kismet, Schicksal, antwortete meine Mutter kurz, als ich sie fragte, warum sie meinem Vater in ein Land gefolgt war, dessen Namen sie bis heute nicht richtig aussprechen kann. Kismet 11   kommt bei ihr immer dann ins Spiel, wenn sie etwas nicht erklären kann. Für sie ist es eine höhere Macht, die ohne menschliches Zutun das Leben grundlegend beeinflusst. Über Kismet wird nicht diskutiert. Basta. Das Wort basta kennt sie von ihrer italienischen Nachbarin in Duisburg. Nachdem meine Mutter meinem Vater nach Duisburg gefolgt war, wuchsen wir Kinder in zwei Welten auf. Zu Hause wurde nur Türkisch gesprochen, und meine Eltern reden bis heute kaum Deutsch. Heute ist die grösste Sorge meines Vaters, dass ich jenseits der 35 bin und noch nicht verheiratet. Alle meine Schwestern sind es. Fatma, die seit ihrer Hochzeit vor fünfzehn Jahren in der Türkei lebt, meinte, die definitiv letzte Chance, die mir noch bliebe, wäre eine Vernunftbeziehung. Mein Vater würde so etwas niemals zu seiner einzigen unverheirateten Tochter sagen. Er würde es mit einem türkischen Sprichwort ungefähr so ausdrücken: «Man gab dem Bettler eine Gurke, und weil sie krumm war, hat sie ihm nicht gefallen.» Was so viel bedeutet wie: «Warum haben wir dich nur so verwöhnt, du undankbares Geschöpf. Du wirst an jedem Mann etwas auszusetzen haben, die Situation ist hoffnungslos!» Auch mein Vater, der nur das allerbeste Lammfleisch auf seinen Grill legt, hat seine Ansprüche an seinen Wunschschwiegersohn mit den Jahren nach unten korrigiert. Musste es vor fünfzehn Jahren ein Türke und Muslim sein, so genügte vor zehn Jahren bereits ein Muslim, und weitere fünf Jahre später hätte er sich sogar mit einem deutschen Mann abgefunden. Türkischen Eltern geht es immer nur um eine einzige Frage: Wann heiratet ihr? Sie sehen in der Freundin oder dem Freund sofort die zukünftige Ehefrau oder den Ehemann. Wenn man also beschliesst, seinen Partner mit nach Hause zu bringen, kommt dies einer Entscheidung gleich. Und die ist endgültig. Ich habe es in der Vergangenheit so gehalten, dass ich meinen Freund zu Hause erst vorgestellt habe, wenn es mir todernst mit ihm war. Leider war das nicht häufig der Fall. Seit meinem ersten Freund Stefan haben meine Eltern keinen meiner Freunde mehr zu Gesicht bekommen. Und dann traf ich Ali. Mit Ali war es mir so todernst, dass ich schwanger wurde von ihm. Und das war das eigentliche Problem. Wenn meine Eltern erfahren würden, dass ich ein Kind von einem ihnen unbekannten Mann erwarte, würde das passieren, was ich eine Türken-Tragödie nenne. Meine Mutter würde sich auf den Kopf schlagen, sich die Haare raufen, mit den Fäusten gegen die Brust trommeln, «ach, ach, ach, ach» rufen, schimpfen, fluchen, mich verstossen. Das ginge wochenlang so, und am Ende würde niemand mehr genau wissen, weswegen sie sich aufgeregt hat. Mein Vater würde so lange nicht mit mir reden, bis er irgendwann vergessen hätte, weswegen er mich die letzten Wochen ignoriert hat. Ali hatte ähnliche Sorgen. Seine Eltern warten, sagte er, seit vielen Jahren darauf, dass ihr einziger Sohn ihnen endlich eine Braut vorstellt. Er befürchtete aber, dass seine Mutter die Vorstellung, dass sie gleichzeitig Schwiegermutter und Grossmutter werden würde, auch nicht verkraften könne. Furioses Familientreffen Wie sollten wir es ihnen beibringen? Kismet wollte es, dass seine und meine Eltern zur selben Zeit Urlaub in der Türkei machten. Wir beschlossen, ein Treffen mit den Eltern zu arrangieren und ihnen dabei zu sagen, dass ich ein Kind erwarte. Betritt man als Mann einer jungen Liebe das Haus der türkischen Freundin, gilt man als Eindringling und stösst zunächst auf Ablehnung. Nicht selten fragt man sich als Heiratsanwärter, wie es sein kann, dass die zukünftige Frau von dieser Familie abstammt; ob die Auserwählte später wohl auch so sein wird. Am besten ist, man sagt bei jeder Gelegenheit: «Die Griechen haben alles von den Türken gestohlen.» Unser Familientreffen begann furios, mein Vater stürmte auf Ali zu, umarmte ihn und schrie: «Willkommen, mein Sohn!» Ali erzählte mir später, er habe gespürt, wie glücklich mein Vater darüber war, dass ich einen Ali mitgebracht hatte und keinen Hans, keinen Deutschen. 2 Ein 7-Monats-Baby Alis Vater sah meinem baba nicht unähnlich wie ein gut in die Jahre gekommener Filmschauspieler mit silbergrauen Haaren. Er wirkte an der Seite seiner Frau sehr zurückhaltend. Auf ihre Ausführungen sagte er immer nur: «Ach so.» Ich habe immer wieder die Beobachtung gemacht, dass deutsche Frauen ihre Ehemänner vorführen, türkische Frauen dagegen ihre Ehemänner führen. Bei meinen Eltern entscheidet meine Mutter, wann und in welcher Ausführung ein neues Möbelstück gekauft wird. Und ihre Begründung ist simpel: Schliesslich sei sie ja den ganzen Tag zu Hause. Unsere Eltern näherten sich einander zunächst vorsichtig an. Aber schon nach einer halben Stunde erzählten sie sich von ihren Pilgerreisen nach Mekka, diskutierten darüber, welche Düngemittel für den Gemüsegarten am besten seien und woran man gutes baklava erkennt. Ich hatte gerade den letzten Löffel gegessen, da sagte Alis Onkel Sedat plötzlich: «Wir sind natürlich nicht ohne Grund gekommen.» Er hatte den Satz kaum ausgesprochen, da griff Alis Mutter schon unter den Tisch und kramte mehrere Schachteln aus ihrer Handtasche. Sie holte zwei Ringe heraus, die mit dem Ewige-Liebe-Band verbunden waren. Sie griff sich Alis und meine Hand, stülpte uns schnell die Ringe über und warf sich anschliessend meiner Mutter weinend in die Arme. Sobald die Ringe übergestreift sind, ist man als Frau die Versprochene, eine Vorstufe der Verlobung. Am liebsten hätte ich Ali die Hochzeitsringe durch die Nase gezogen. Ein paar Wochen später erzählten wir unseren Eltern am Telefon, dass wir ein Kind bekommen. Mein Vater sagte, er habe letzte Nacht geträumt, dass ich schwanger sei. Er freute sich auf sein neuntes Enkelkind. Alis Mutter hingegen verschlug es die Sprache, sie begann herumzurechnen. Was solls, sagten wir, wir bekommen eben ein 7-Monats-Baby. Meinem Vater war es mittlerweile nicht mehr wichtig, ob wir heirateten oder nicht. Er war einfach nur resigniert. Er sagte: «Die Reihenfolge stimmt bei euch sowieso nicht. Man heiratet zuerst und bekommt dann ein Kind. Jetzt ist es auch schon egal, ob ihr eine Hochzeit feiert oder nicht.» Alis Familie allerdings war nicht so gelassen wie meine und versuchte mich hartnäckig von den Vorzügen einer Hochzeitsfeier zu überzeugen. Ebru, Alis Schwester, versprach mir sogar ein Armani-Hochzeitskleid, wenn ich heiraten würde. Als ich unsere Tochter zur Welt brachte, haben wir uns entschieden, sie «Merve Johanna» zu nennen und zweisprachig zu erziehen. Meine Eltern sind dagegen. Sie sagen, dass ihre Enkeltochter noch früh genug Deutsch lernt, dass in den ersten Jahren zunächst das Fundament für ihre Muttersprache gebildet werden sollte. Wenn ich ihnen entgegne, dass Merves Muttersprache Deutsch ist, werden sie böse und beschimpfen mich als «deutsche Mutter». So nennen sie mich auch, wenn ich meine Tochter um Punkt acht ins Bett stecke. Meine Eltern und Schwestern sagen dann entsetzt: «Das arme deutsche Kind.» «Mein Hemd ist voll porno» Deutsch ist meine erste Sprache, aber dennoch muss ich gestehen, dass es mir schwer fällt, unserer Tochter deutsche Kosenamen zu geben. Es fällt mir leichter, mit ihr auf Türkisch zu schmusen. Vielleicht liegt es daran, dass ich türkische Kosenamen nie auf Deutsch gehört habe abgesehen von «Schatz» und «meine kleine Dönertasche». Türken werden bei der Bekundung ihrer Zuneigung eher zu Kannibalen: «Birtanem, önce seni dilim dilim keserim, sonra ham ham yerim meine Einzige, erst werde ich dich in Scheibchen schneiden und anschliessend ham ham essen.» Mein Bruder Mustafa ist kein Türke, vor dem man Angst haben müsste. Wirklich nicht. Wenn es so wäre, hätte ich ihn längst persönlich in die Türkei abgeschoben. Mustafa liebt es, auffällige 33   Hemden zu tragen, am liebsten welche von Versace. Sie sehen aus wie Weihnachtstischdecken. Mein Bruder findet so ein Hemd luxuriös, verführerisch und dekadent, auch wenn er diese Worte nicht benutzen würde. Er sagt: «Mein Hemd is voll porno.» Das Gegenteil von «voll porno» ist «voll schwul». Als er uns das erste Mal besuchte, brach es aus ihm heraus: «Ey, der neue Schwager sieht aus wie Hans, und er redet auch wie Hans!» Ich musste zugeben, dass sein Urteil irgendwie passte. Ali war durch seine Ordnungsliebe und Genauigkeit ein erstklassiger Hans mit türkischen Wurzeln. Erst als Mustafa feststellte, dass Ali für denselben Fussballverein, Galatasaray Istanbul, und die gleichen Autos schwärmte, begann er ihn zu akzeptieren. Ich nenne das türkischen Familienkommunismus: Jeder gehört irgendwie jedem, mein Freund muss auch meinem Bruder gefallen. Ich habe mir fest vorgenommen, dass unsere Tochter später nicht unter einer Gemeinschaft ohne eigenen Freiraum leiden soll. Schritt für Schritt möchte ich aus dem türkischen Kollektiv eine deutsche Kleinfamilie machen. Weihnachten mit Würstchen Ali und ich werden Weihnachten in diesem Jahr das erste Mal nicht bei unseren deutschen Freunden feiern, sondern bei uns zu Hause. Mit unserer Tochter. Wir werden einen Tannenbaum kaufen, ihn schmücken, Geschenke einpacken, und ich werde sogar eine grosse Gans braten. Neben der Gans werde ich jedoch auch einen Kartoffelsalat zubereiten und dazu Würstchen servieren. Ja, Würstchen! Ich hoffe, dass ich mit dieser Aussage nicht auf der Todesliste von irgendwelchen Fanatikern lande. Aber ich habe als Kind sehr darunter gelitten, keine Würstchen essen zu dürfen. Wenn ich vergleiche, wie meine Mutter mich erzogen hat und wie ich Merve erziehe, kommt es mir vor, als lägen Jahrhunderte dazwischen. Meiner Mutter war es wichtig, dass ich jederzeit zu Hause zurechtkomme. So wünscht sie sich das auch bei meiner Tochter. Es gibt da nur einen kleinen Unterschied. Wenn meine Mutter an ein Zuhause denkt, hat sie ihr anatolisches Dorf vor Augen. Nur im fernen Anatolien habe ich gesehen, wie meine Eltern Hand in Hand spazieren gingen. Meine Mutter hat sich nur für ihre Kinder interessiert. Niemals hätte sie uns in fremde Hände gegeben, niemals zu einer Tagesmutter oder in einen Kindergarten. Merve hat jetzt eine Nanny und wird später in den Kindergarten gehen. Merve wird kein Kopftuch tragen und nicht fasten müssen. In Zukunft werden Weihnachtsmann, Osterhase und Nikolaus auch bei uns zu Hause ein- und ausgehen. Und wenn meine Tochter ihre Geschenke auspacken möchte, singen wir vorher ein türkisches Kinderlied oder tanzen zu türkischer Musik. Und vielleicht kommt irgendwann einmal eine Zeit, in der sich nicht nur meine deutschen Freunde bei uns erkundigen, ob wir Weihnachten feiern, sondern in der ich sie frage: «Wie begeht ihr eigentlich in diesem Jahr das Ende des Ramadan, das Zuckerfest? ******************** Mit Ali war es mir so todernst, dass ich schwanger wurde von ihm. Hatice Akyün, 39, Tochter einer türkischen Gastarbeiterfamilie, lebt seit 1972 in Deutschland. Die Journalistin wuchs in Duisburg auf. Diese Auszüge sind aus ihrem Buch «Ali zum Dessert», das kürzlich im Goldmann Verlag erschienen ist. Tages-Anzeiger; 26.09.2008 ******************** Aufgabe Lesen Sie den Text durch. Einigen Sie sich innerhalb der Gruppe auf die fünf wichtigsten Stichworte, welche auf den im Arbeitsblatt markierten Bereich zutreffen. 4 Arbeitsblatt zum Text „Meine kleine Dönertasche Typische Werte in der Türkei Typische Werte in Deutschland Verschmelzung der Kulturen 55