Arbeitsblatt: Kurzgeschichten

Material-Details

Kurzgeschichten
Deutsch
Lesefertigkeit
5. Schuljahr
5 Seiten

Statistik

139241
1693
31
19.11.2014

Autor/in

Ebru Özmen
Land: Schweiz
Registriert vor 2006

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Textauszüge aus dem Inhalt:

Kurzgeschichten für den Deutsch-Unterricht Inhaltsverzeichnis Ilse Aichinger: Das Fenster-Theater Peter Bichsel: San Salvador Heinrich Böll: Es wird etwas geschehen Wolfgang Borchert: Das Brot Rainer Brambach: Känsterle Günter Grass: Die Linkshänder Marie Luise Kaschnitz: Eisbären Günter Kunert: Lieferung frei Haus Kurt Kusenberg: Herr G. steigt aus Siegfried Lenz: Der große Wildenberg Christoph Meckel: Die Vampire Christa Reinig: Skorpion Wolfdietrich Schnurre: Auf der Flucht Günter Seuren: Das Experiment Oliver Storz: Lokaltermin Martin Walser: Die Klagen über meine Methoden häufen sich Ilse Aichinger: Das Fenstertheater Die Frau lehnte am Fenster und sah hinüber. Der Wind trieb in leichten Stößen vom Fluss herauf und brachte nichts Neues. Die Frau hatte den starren Blick neugieriger Leute, die unersättlich sind. Es hatte ihr noch niemand den Gefallen getan, vor ihrem Haus niedergefahren zu werden. Außerdem wohnte sie im vorletzten Stock, die Straße lag zu tief unten. Der Lärm rauschte nur mehr leicht herauf. Alles lag zu tief unten. Als sie sich eben vom Fenster abwenden wollte, bemerkte sie, dass der Alte gegenüber Licht angedreht hatte. Da es noch ganz hell war, blieb dieses Licht für sich und machte den merkwürdigen Eindruck, den aufflammende Straßenlaternen unter der Sonne machen. Als hätte einer an seinen Fenstern die Kerzen angesteckt, noch ehe die Prozession die Kirche verlassen hat. Die Frau blieb am Fenster. Der Alte öffnete und nickte herüber. Meint er mich? dachte die Frau. Die Wohnung über ihr stand leer, und unterhalb lag eine Werkstatt, die um diese Zeit schon geschlossen war. Sie bewegte leicht den Kopf. Der Alte nickte wieder. Er griff sich an die Stirne, entdeckte, dass er keinen Hut aufhatte, und verschwand im Innern des Zimmers. Gleich darauf kam er in Hut und Mantel wieder. Er zog den Hut und lächelte. Dann nahm er ein weißes Tuch aus der Tasche und begann zu winken. Erst leicht und dann immer eifriger. Er hing über die Brüstung, dass man Angst bekam, er würde vornüberfallen. Die Frau trat einen Schritt zurück, aber das schien ihn nur Zu bestärken. Er ließ das Tuch fallen, löste seinen Schal vom Hals einen großen bunten Schal und ließ ihn aus dem Fenster wehen. Dazu lächelte er. Und als sie noch einen weiteren Schritt zurücktrat, warf er den Hut mit einer heftigen Bewegung ab und wand den Schal wie einen Turban um seinen Kopf. Dann kreuzte er die Arme über der Brust und verneigte sich. Sooft er aufsah, kniff er das linke Auge zu, als herrsche zwischen ihnen ein geheimes Einverständnis. Das bereitete ihr so lange Vergnügen, bis sie plötzlich nur mehr seine Beine in dünnen, geflickten Samthosen in die Luft ragen sah. Er stand auf dem Kopf. Als sein Gesicht gerötet, erhitzt und freundlich wieder auftauchte, hatte sie schon die Polizei verständigt. Und während er, in ein Leintuch gehüllt, abwechselnd an beiden Fenstern erschien, unterschied sie schon drei Gassen weiter über dem Geklingel der Straßenbahnen und dem gedämpften Lärm der Stadt das Hupen des Überfallautos. Denn ihre Erklärung hatte nicht sehr klar und ihre Stimme erregt geklungen. Der alte Mann lachte jetzt, so dass sich sein Gesicht in tiefe Falten legte, streifte dann mit einer vagen Gebärde darüber, wurde ernst, schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten und warf es dann hinüber. Erst als der Wagen schon um die Ecke bog, gelang es der Frau, sich von seinem Anblick loszureißen. Sie kam atemlos unten an. Eine Menschenmenge hatte sich um den Polizeiwagen gesammelt. Die Polizisten waren abgesprungen, und die Menge kam hinter ihnen und der Frau her. Sobald man die Leute zu verscheuchen suchte, erklärten sie einstimmig, in diesem Hause zu wohnen. Einige davon kamen bis zum letzten Stock mit. Von den Stufen beobachteten sie, wie die Männer, nachdem ihr Klopfen vergeblich blieb und die Glocke allem Anschein nach nicht funktionierte, die Tür aufbrachen. 2 Sie arbeiteten schnell und mit einer Sicherheit, von der jeder Einbrecher lernen konnte. Auch in dem Vorraum, dessen Fenster auf den Hof sahen, zögerten sie nicht eine Sekunde. Zwei von ihnen zogen die Stiefel aus und schlichen um die Ecke. Es war inzwischen finster geworden. Sie stießen an einen Kleiderständer, gewahrten den Lichtschein am Ende des schmalen Ganges und gingen ihm nach. Die Frau schlich. hinter ihnen her. Als die Tür aufflog, stand der alte Mann, mit dem Rücken zu ihnen gewandt, noch immer am Fenster. Er hielt ein großes weißes Kissen auf dem Kopf, das er immer wieder abnahm, als bedeutete er jemandem, dass er schlafen wolle. Den Teppich, den er vom Boden genommen hatte, trug er um die Schultern. Da er schwerhörig war, wandte er sich auch nicht um, als die Männer schon knapp hinter ihm standen und die Frau über ihn hinweg in ihr eigenes finsteres Fenster sah. Die Werkstatt unterhalb war, wie sie angenommen hatte, geschlossen. Aber in die Wohnung oberhalb musste eine neue Partei eingezogen sein. An eines der erleuchteten Fenster war ein Gitterbett geschoben, in dem aufrecht ein kleiner Knabe stand. Auch er trug sein Kissen auf dem Kopf und die Bettdecke um die Schultern. Er sprang und winkte herüber und krähte vor Jubel. Er lachte, strich mit der Hand über das Gesicht, wurde ernst und schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten. Dann warf er es mit aller Kraft den Wachleuten ins Gesicht. 3 Peter Bichsel: San Salvador Er hatte sich eine Füllfeder gekauft. Nachdem er mehrmals seine Unterschrift, dann seine Initialen, seine Adresse, einige Wellenlinien, dann die Adresse seiner Eltern auf ein Blatt gezeichnet hatte, nahm er einen neuen Bogen, faltete ihn sorgfältig und schrieb: „Mir ist es hier zu kalt, dann, „ich gehe nach Südamerika, dann hielt er inne, schraubte die Kappe auf die Feder, betrachtete den Bogen und sah, wie die Tinte eintrocknete und dunkel wurde (in der Papeterie garantierte man, dass sie schwarz werde), dann nahm er seine Feder erneut zur Hand und setzte noch großzügig seinen Namen Paul darunter. Dann saß er da. Später räumte er die Zeitungen vom Tisch, überflog dabei die Kinoinserate, dachte an irgend etwas, schob den Aschenbecher beiseite, zerriss den Zettel mit den Wellenlinien, entleerte seine Feder und füllte sie wieder. Für die Kinovorstellung war es jetzt zu spät. Die Probe des Kirchenchores dauert bis neun Uhr, um halb zehn würde Hildegard zurück sein. Er wartete auf Hildegard. Zu all dem Musik aus dem Radio. Jetzt drehte er das Radio ab. Auf dem Tisch, mitten auf dem Tisch, lag nun der gefaltete Bogen, darauf stand in blauschwarzer Schrift sein Name Paul. „Mir ist es hier zu kalt, stand auch darauf. Nun würde also Hildegard heimkommen, um halb zehn. Es war jetzt neun Uhr. Sie läse seine Mitteilung, erschräke dabei, glaubte wohl das mit Südamerika nicht, würde dennoch die Hemden im Kasten zählen, etwas müsste ja geschehen sein. Sie würde in den „Löwen telefonieren. Der „Löwen ist mittwochs geschlossen. Sie würde lächeln und verzweifeln und sich damit abfinden, vielleicht. Sie würde sich mehrmals die Haare aus dem Gesicht streichen, mit dem Ringfinger der linken Hand beidseitig der Schläfe entlangfahren, dann langsam den Mantel aufknöpfen. Dann saß er da, überlegte, wem er einen Brief schreiben könnte, las die Gebrauchsanweisung für den Füller noch einmal leicht nach rechts drehen las auch den französischen Text, verglich den englischen mit dem deutschen, sah wieder seinen Zettel, dachte an Palmen, dachte an Hildegard. Saß da. Und um halb zehn kam Hildegard und fragte: „Schlafen die Kinder? Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. 4 Heinrich Böll: Es wird etwas geschehen Eine handlungsstarke Geschichte Zu den merkwürdigsten Abschnitten meines Lebens gehört wohl der, den ich als Angestellter in Alfred Wunsiedels Fabrik zubrachte. Von Natur bin ich mehr dem Nachdenken und dem Nichtstun zugeneigt als der Arbeit, doch hin und wieder zwingen mich anhaltende finanzielle Schwierigkeiten denn Nachdenken bringt sowenig ein wie Nichtstun -, eine so genannte Stelle anzunehmen. Wieder einmal auf einem solchen Tiefpunkt angekommen, vertraute ich mich der Arbeitsvermittlung an und wurde mit sieben anderen Leidensgenossen in Wunsiedels Fabrik geschickt, wo wir einer Eignungsprüfung unterzogen werden sollten. Schon der Anblick der Fabrik machte mich misstrauisch: die Fabrik war ganz aus Glasziegeln gebaut, und meine Abneigung gegen helle Gebäude und helle Räume ist so stark wie meine Abneigung gegen die Arbeit. Noch misstrauischer wurde ich, als uns in der hellen, fröhlich ausgemalten Kantine gleich ein Frühstück serviert wurde: hübsche Kellnerinnen brachten uns Eier, Kaffee und Toaste, in geschmackvollen Karaffen stand Orangensaft; Goldfische drückten ihre blasierten Gesichter gegen die Wände hellgrüner Aquarien. Die Kellnerinnen waren so fröhlich, dass sie vor Fröhlichkeit fast zu platzen schienen. Nur starke Willensanstrengung so schien mir hielt sie davon zurück, dauernd zu trällern. Sie waren mit ungesungenen Liedern so angefüllt wie Hühner mit ungelegten Eiern. Ich ahnte gleich, was meine Leidensgenossen nicht zu ahnen schienen: dass auch dieses Frühstück zur Prüfung gehöre; und so kaute ich hingebungsvoll, mit dem vollen Bewusstsein eines Menschen, der genau weiß, dass er seinem Körper wertvolle Stoffe zuführt. Ich tat etwas, wozu mich normalerweise keine Macht dieser Welt bringen würde: Ich trank auf den nüchternen Magen Orangensaft, ließ den Kaffee und ein Ei Stehen, den größten Teil des Toasts liegen, stand auf und marschierte handlungsschwanger in der Kantine auf und ab. So wurde ich als erster in den Prüfungsraum geführt, wo auf reizenden Tischen die Fragebogen bereitlagen. Die Wände waren in einem Grün getönt, das Einrichtungsfanatikern das Wort „entzückend auf die Lippen gezaubert hätte. Niemand war zu sehen, und doch war ich so sicher, beobachtet zu werden, dass ich mich benahm, wie ein Handlungsschwangerer sich benimmt, wenn er sich unbeobachtet glaubt: ungeduldig riss ich meinen Füllfederhalter aus der Tasche, schraubte ihn auf, setzte mich an den nächstbesten Tisch und zog den Fragebogen an mich heran, wie Choleriker Wirtshausrechnungen zu sich hinziehen. Erste Frage: Halten Sie es für richtig, dass der Mensch nur zwei Arme, zwei Beine, Augen und Ohren hat? Hier erntete ich zum ersten Male die Früchte meiner Nachdenklichkeit und schrieb ohne Zögern hin: „Selbst vier Arme, Beine, Ohren würden meinem Tatendrang nicht genügen. Die Ausstattung des Menschen ist kümmerlich. Zweite Frage: Wie viel Telefone können Sie gleichzeitig bedienen? Auch hier war die Antwort so leicht wie die Lösung einer Gleichung ersten Grades. „Wenn es nur sieben Telefone sind, schrieb ich, „werde ich ungeduldig, erst bei neun fühle ich mich vollkommen ausgelastet. Dritte Frage: Was machen Sie nach Feierabend? Meine Antwort: „Ich kenne das Wort Feierabend nicht mehr an meinem fünfzehnten Geburtstag strich ich es aus meinem Vokabular, denn am Anfang war die Tat. Ich bekam die Stelle. Tatsächlich fühlte ich mich sogar mit den neun Telefonen nicht ganz ausgelastet. Ich rief in die Muscheln der Hörer: „Handeln Sie sofort! oder: „Tun Sie etwas! Es muss etwas geschehen Es wird etwas geschehen Es ist etwas geschehen Es sollte etwas geschehen. Doch meistens denn das schien mir der Atmosphäre gemäß bediente ich mich des Imperativs. Interessant waren die Mittagspausen, wo wir in der Kantine, von lautloser Fröhlichkeit umgeben, vitaminreiche Speisen aßen. Es wimmelte in Wunsiedels Fabrik von Leuten, die verrückt darauf waren, ihren Lebenslauf zu erzählen, wie eben handlungsstarke Persönlichkeiten es gern tun. Ihr Lebenslauf ist ihnen wichtiger als ihr Leben, man braucht nur auf einen Knopf zu drücken, und schon erbrechen sie ihn in Ehren. 5 Wunsiedels Stellvertreter war ein Mann mit Namen Broschek, der seinerseits einen gewissen Ruhm erworben hatte, weil er als Student sieben Kinder und eine gelähmte Frau. durch Nachtarbeit ernährt, zugleich vier Handelsvertretungen erfolgreich ausgeübt und dennoch innerhalb von zwei Jahren zwei Staatsprüfungen mit Auszeichnung bestanden hatte. Als ihn Reporter gefragt hatten: „Wann schlafen Sie denn, Broschek?, hatte er geantwortet: „Schlafen ist Sünde! Wunsiedels Sekretärin haue einen gelähmten Mann und vier Kinder durch Strichen ernährt, hatte gleichzeitig in Psychologie und Heimatkunde promoviert, Schäferhunde gezüchtet und war als Barsängerin unter dem Namen „Vamp 7 berühmt geworden. Wunsiedel selbst war einer von den Leuten, die morgens, kaum erwacht, schon entschlossen sind, zu handeln. „Ich muss handeln, denken sie, während sie energisch den Gürtel des Bademantels zuschnüren. „Ich muss handeln, denken sie, während sie sich rasieren, und sie blicken triumphierend auf die Barthaare, die sie mit dem Seifenschaum von ihrem Rasierapparat abspulen: Diese Reste der Behaarung sind die ersten Opfer ihres Tatendranges. Auch die intimeren Verrichtungen lösen Befriedigung bei diesen Leuten aus: Wasser rauscht, Papier wird verbraucht. Es ist etwas geschehen. Brot wird gegessen, dem Ei wird der Kopf abgeschlagen. Die belangloseste Tätigkeit sah bei Wunsiedel wie eine Handlung aus: wie er den Hut aufsetzte, wie er bebend vor Energie den Mantel zuknöpfte, den Kuss, den er seiner Frau gab, alles war Tat. Wenn er sein Büro betrat, rief er seiner Sekretärin als Gruß zu: „Es muss etwas geschehen! Und diese rief frohen Mutes: „Es wird etwas geschehen! Wunsiedel ging dann von Abteilung zu Abteilung, rief sein fröhliches: „Es muss etwas geschehen! Alle antworteten: „Es wird etwas geschehen! Und auch ich rief ihm, wenn er mein Zimmer betrat, strahlend zu: „Es wird etwas geschehen! Innerhalb der ersten Woche steigerte ich die Zahl der bedienten Telefone auf elf, innerhalb der zweiten Woche auf dreizehn, und es machte mir Spaß, morgens in der Straßenbahn neue Imperative zu erfinden oder das Verbum geschehen durch die verschiedenen Tempora, durch die verschiedenen Genera, durch Konjunktiv und Indikativ zu hetzen; zwei Tage lang sagte ich nur den einen Satz, weil ich ihn so schon fand: „Es hätte etwas geschehen müssen, zwei weitere Tage lang einen anderen: „Das hätte nicht geschehen dürfen. So fing ich an, mich tatsächlich ausgelastet zu fühlen, als wirklich etwas geschah. An einem Dienstagmorgen ich hatte mich noch gar nicht richtig zurechtgesetzt stürzte Wunsiedel in mein Zimmer und rief sein „Es muss etwas geschehen! Doch etwas Unerklärliches auf seinem Gesicht ließ mich zögern, fröhlich und munter, wie es vorgeschrieben war, zu antworten: „Es wird etwas geschehen! Ich zögerte wohl zu lange, denn Wunsiedel, der sonst selten schrie, brüllte mich an: „Antworten Sie! Antworten Sie, wie es vorgeschrieben ist! Und ich antwortete leise und widerstrebend wie ein Kind, das man zu sagen zwingt: Ich bin ein böses Kind. Nur mit großer Anstrengung brachte ich den Satz heraus: „Es wird etwas geschehen, und kaum hatte ich ihn ausgesprochen, da geschah tatsächlich etwas: Wunsiedel stürzte zu Boden, rollte im Stürzen auf die Seite und lag quer vor der offenen Tür. Ich wusste gleich, was sich mir bestätigte, als ich langsam um meinen Tisch herum auf den Liegenden zuging: dass er tot war. Kopfschüttelnd stieg ich über Wunsiedel hinweg, ging langsam durch den Flur zu Broscheks Zimmer und trat dort ohne anzuklopfen ein. Broschek saß an seinem Schreibtisch, hatte in jeder Hand einen Telefonhörer, im Mund einen Kugelschreiber, mit dem er Notizen auf einen Block schrieb, während er mit den bloßen Füßen eine Strickmaschine bediente, die unter dem Schreibtisch stand. Auf diese Weise trägt er dazu bei, die Bekleidung seiner Familie zu vervollständigen. „Es ist etwas geschehen, sagte ich leise. Broschek spuckte den Kugelstift aus, legte die beiden Hörer hin, löste zögernd seine Zehen von der Strickmaschine. „Was ist denn geschehen? fragte er. „Herr Wunsiedel ist tot, sagte ich. „Nein, sagte Broschek. „Doch, sagte ich, „kommen Sie! „Nein, sagte Broschek, „das ist unmöglich, aber er schlüpfte in seine Pantoffeln und folgte mir über den Flur. „Nein, sagte er, als wir an Wunsiedels Leiche standen, „nein, nein! Ich widersprach ihm nicht. Vorsichtig drehte ich Wunsiedel auf den Rücken, drückte ihm die Augen zu und betrachtete ihn nachdenklich. Ich empfand fast Zärtlichkeit für ihn, und zum ersten Male wurde mir klar, dass ich ihn nie gehasst hatte. Auf seinem Gesicht war etwas, wie es auf den Gesichtern der Kinder ist, die sich hartnäckig 6 weigern, ihren Glauben an den Weihnachtsmann aufzugeben, obwohl die Argumente der Spielkameraden so überzeugend klingen. „Nein, sagte Broschek, „nein. „Es muss etwas geschehen, sagte ich leise zu Broschek. „Ja, sagte Broschek, „es muss etwas geschehen. Es geschah etwas: Wunsiedel wurde beerdigt, und ich wurde ausersehen, einen Kranz künstlicher Rosen hinter seinem Sarg herzutragen, denn ich bin nicht nur mit einem Hang zur Nachdenklichkeit und zum Nichtstun ausgestattet, sondern auch mit einer Gestalt und einem Gesicht, die sich vorzüglich für schwarze Anzüge eignen. Offenbar habe ich mit dem Kranz künstlicher Rosen in der Hand hinter Wunsiedels Sarg hergehend großartig ausgesehen. Ich erhielt das Angebot eines eleganten Beerdigungsinstitutes, dort als berufsmäßiger Trauernder einzutreten. „Sie sind der geborene Trauernde, sagte der Leiter des Instituts, „die Garderobe bekommen Sie gestellt. Ihr Gesicht einfach großartig! Ich kündigte Broschek mit der Begründung, dass ich mich dort nicht richtig ausgelastet fühle, dass, Teile meiner Fähigkeiten trotz der dreizehn Telefone brachlägen. Gleich nach meinem ersten berufsmäßigen Trauergang wusste ich: Hierhin gehörst du, das ist der Platz, der für dich bestimmt ist. Nachdenklich stehe ich hinter dem Sarg in der Trauerkapelle, mit einem schlichten Blumenstrauß in der Hand, während Händels „Largo gespielt wird, ein Musikstück, das viel zu wenig geachtet ist. Das Friedhofscafe ist mein Stammlokal, dort verbringe ich die Zeit zwischen meinen beruflichen Auftritten, doch manchmal gehe ich auch hinter Särgen her, zu denen ich nicht beordert bin, kaufe aus meiner Tasche einen Blumenstrauß und geselle mich zu dem Wohlfahrtsbeamten, der hinter dem Sarg eines Heimatlosen hergeht. Hin und wieder auch besuche ich Wunsiedels Grab, denn schließlich verdanke ich es ihm, dass ich meinen eigentlichen Beruf entdeckte, einen Beruf, bei dem Nachdenklichkeit geradezu erwünscht und Nichtstun meine Pflicht ist. Spät erst fiel mir ein, dass ich mich nie für den Artikel interessiert habe, der in Wunsiedels Fabrik hergestellt wurde. Es wird wohl Seife gewesen sein. 7 Wolfgang Borchert: Das Brot Plötzlich wachte sie auf. Es war halb drei. Sie überlegte, warum sie aufgewacht war. Ach so! In der Küche hatte jemand gegen einen Stuhl gestoßen. Sie horchte nach der Küche. Es war still. Es war zu still und als sie mit der Hand über das Bett neben sich fuhr, fand sie es leer. Das war es, was es so besonders still gemacht hatte: sein Atem fehlte. Sie stand auf und tappte durch die dunkle Wohnung zur Küche. In der Küche trafen sie sich. Die Uhr war halb drei. Sie sah etwas Weißes am Küchenschrank stehen. Sie machte Licht. Sie standen sich im Hemd gegenüber. Nachts. Um halb drei. In der Küche. Auf dem Küchentisch stand der Brotteller. Sie sah, dass er sich Brot abgeschnitten hatte. Das Messer lag noch neben dem Teller. Und auf der Decke lagen Brotkrümel. Wenn sie abends zu Bett gingen, machte sie immer das Tischtuch sauber. Jeden Abend. Aber nun lagen Krümel auf dem Tuch. Und das Messer lag da. Sie fühlte, wie die Kälte der Fliesen langsam an ihr hoch kroch. Und sie sah von dem Teller weg. „Ich dachte, hier wäre was, sagte er und sah in der Küche umher. „Ich habe auch was gehört, antwortete sie und dabei fand sie, dass er nachts im Hemd doch schon recht alt aussah. So alt wie er war. Dreiundsechzig. Tagsüber sah er manchmal jünger aus. Sie sieht doch schon alt aus, dachte er, im Hemd sieht sie doch ziemlich alt aus. Aber das liegt vielleicht an den Haaren. Bei den Frauen liegt das nachts immer an den Haaren. Die machen dann auf einmal so alt. „Du hättest Schuhe anziehen sollen. So barfuß auf den kalten Fliesen. Du erkältest dich noch. Sie sah ihn nicht an, weil sie nicht ertragen konnte, dass er log. Dass er log, nachdem sie neununddreißig Jahre verheiratet waren. „Ich dachte, hier wäre was, sagte er noch einmal und sah wieder so sinnlos von einer Ecke in die andere, „ich hörte hier was. Da dachte ich, hier wäre was. „Ich hab auch was gehört. Aber es war wohl nichts. Sie stellte den Teller vom Tisch und schnippte die Krümel von der Decke. „Nein, es war wohl nichts, echote er unsicher. Sie kam ihm zu Hilfe: „Komm man. Das war wohl draußen. Komm man zu Bett. Du erkältest dich noch. Auf den kalten Fliesen. Er sah zum Fenster hin. „Ja, das muss wohl draußen gewesen sein. Ich dachte, es wäre hier. Sie hob die Hand zum Lichtschalter. Ich muss das Licht jetzt ausmachen, sonst muss ich nach dem Teller sehen, dachte sie. Ich darf doch nicht nach dem Teller sehen. „Komm man, sagte sie und machte das Licht aus, „das war wohl draußen. Die Dachrinne schlägt immer bei Wind gegen die Wand. Es war sicher die Dachrinne. Bei Wind klappen sie immer. Sie tappten sich beide über den dunklen Korridor zum Schlafzimmer. Ihre nackten Füße platschten auf den Fußboden. „Wind ist ja, meinte er. „Wind war schon die ganze Nacht. Als sie im Bett lagen, sagte sie: „Ja, Wind war schon die ganze Nacht. Es war wohl die Dachrinne. „Ja, ich dachte, es wäre in der Küche. Es war wohl die Dachrinne. Er sagte das, als ob er schon halb im Schlaf wäre. Aber sie merkte, wie unecht seine Stimme klang, wenn er log. „Es ist kalt, sagte sie und gähnte leise, „ich krieche unter die Decke. Gute Nacht. „Nacht, antwortete er noch: „Ja, kalt ist es schon ganz schön. Dann war es still. Nach vielen Minuten hörte sie, dass er leise und vorsichtig kaute. Sie atmete absichtlich tief und gleichmäßig, damit er nicht merken sollte, dass sie noch wach war. Aber sein Kauen war so regelmäßig, dass sie davon langsam einschlief. 8 Als er am nächsten Abend nach Hause kam, schob sie ihm vier Scheiben Brot hin. Sonst hatte er immer nur drei essen können. „Du kannst ruhig vier essen, sagte sie und ging von der Lampe weg. „Ich kann dieses Brot nicht so recht vertragen. Iss du man eine mehr. Ich vertrag es nicht so gut. Sie sah, wie er sich tief über den Teller beugte. Er sah nicht auf. In diesem Augenblick tat er ihr Leid. „Du kannst doch nicht nur zwei Scheiben essen, sagte er auf seinen Teller. „Doch. Abends vertrag ich das Brot nicht gut. Iss man. Iss man. Erst nach einer Weile setzte sie sich unter die Lampe an den Tisch. 9 Rainer Brambach: Känsterle Wallfried Känsterle, der einfache Schlosser, sitzt nach Feierabend vor dem Fernsehschirm. Wo denn sonst? Tagesschau, Wetterkarte; die Meisterschaft der Gewichtheber interessiert Känsterle. „Mach den Ton leiser, die Buben schlafen! ruft Rosa, die in der Küche Geschirr gespült hat und nun hereinkommt. Känsterle gehorcht. „Es ist kalt draußen, plaudert sie, „wie gut, dass wir Winterfenster haben. Nur frisch anstreichen sollte man sie wieder einmal. Wallfried, im Frühjahr musst du unbedingt die Winterfenster streichen. Und kitten muss man sie! Überall bröckelt der Kitt. Niemand im Haus hat so schäbige Winterfenster wie wir! Ich ärgere mich jedes Mal, wenn ich die Winterfenster putze. Hast du gehört? „Ja, ja, sagt Känsterle abwesend. „Was macht denn der da? fragt Rosa und deutet auf den Fernsehschirm. „Der könnte seine Kraft auch für was Besseres gebrauchen! Stell das doch ab, ich hab mit dir zu reden! „Gleich, gleich! sagt Känsterle und beugt sich etwas näher zum Schirm. „Herr Hansmann im Parterre hat im letzten Sommer seine Winterfenster neu gekittet und gestrichen, obwohl es gar nicht nötig war. Nimm dir mal ein Beispiel an Herrn Hansmann! Seine ganzen Ferien hat er dran gegeben. So ein ordentlicher Mann. Übermorgen ist Sankt Nikolaus. Erinnerst du dich an Herrn Weckhammer? Ich hab heut im Konsum seine Frau getroffen, ganz in Schwarz. Der alte Weckhammer ist umgefallen, beim Treppensteigen, Herzschlag. Känsterle drückt auf die Taste „Aus. „Ein Trost, fängt Rosa wieder an, „dass die Weckhammerschen Kinder aus dem Gröbsten raus sind. Die Witwe fragt, ob wir den Nikolaus gebrauchen könnten. Eine Kutte mit Kaninchenfell am Kragen, schöner weißer Bart, Stiefel, Sack und Krummstab, alles gut erhalten. Nur vierzig Mark will sie dafür, hat sie gesagt. Mein Mann wird kommen und ihn holen, hab ich da gesagt. Nicht wahr. Wallfried, du wirst Paul und Konradle die Freude machen? Känsterle schaut auf die matte Scheibe. „Wallfried! ruft Rosa. „Aber Rosa, murmelt Känsterle hilflos, „du weißt doch, dass ich nicht zu so was tauge. Was soll ich denn den Buben sagen? Ein Nikolaus muss ein geübter Redner sein! Muss gut und viel sprechen. Rosa glättet mit der Hand das Tischtuch und schüttelt den Kopf, wobei der Haarknoten, trotz des Kamms, der ihn wie ein braunes Gebiss festhält, eigensinnig wackelt. „Vermaledeiter Stockfisch! zischt sie. „Nicht einmal den eignen Buben willst du diese Freude machen! Dabei hab ich schon im Konsum Nüsse, Datteln, Feigen, ein paar Apfelsinen und alles eingekauft! Känsterles Gemüt verdüstert sich. Er denkt an das schwere, ihm aufgezwungene Amt. Eine verstaubte Glühbirne wirft trübes Licht. Känsterle steht auf dem Dachboden; er verwandelt sich zögernd in einen Weihnachtsmann. Die Kutte, die den Hundertkilomann Weckhammer einst so prächtig gekleidet hat, ist dem gedrungenen Känsterle viel zu geräumig. Er klebt den Bart an die Ohren. Sein Blick streift die Stiefel, und dabei versucht er sich an die Füße Weckhammers zu erinnern. Er zerknüllt ein paar Zeitungen und stopft sie in die steinharten Bottiche. Obwohl er zwei Paar grobwollene Socken anhat, findet er noch immer keinen rechten Halt. Er zieht die Kapuze über den Kopf, schwingt den vollen Sack über die Schulter und ergreift den Krummstab. Der Abstieg beginnt. Langsam rutscht ihm die Kapuze über Stirn und Augen; der Bart verschiebt sich nach oben und kitzelt seine Nase. Känsterle sucht mit dem linken Fuß die nächste Treppenstufe und tritt auf den Kuttensaum. Er beugt den Oberkörper vor und will den rechten Fuß vorsetzen; dabei rollt der schwere Sack von der Schulter nach vorn, Mann und Sack 10 rumpeln in die Tiefe. Ein dumpfer Schlag. In Känsterles Ohren trillert. Ein Gipsfladen fällt von der Wand. „Oh! Jetzt hat sicher der Nikolaus angeklopft! tönt Rosas Stimme hinter der Tür. Sie öffnet und sagt: „Mein Gott. was machst du denn da am Boden? Zieh den Bart zurecht, die Kinder kommen! Känsterle zieht sich am Treppengeländer hoch, steht unsicher da. Dann holt er aus und versetzt Rosa eine Backpfeife. Rosa heult auf, taumelt zurück; Känsterle stampft ins Wohnzimmer, reißt Rosas Lieblingsstück, einen Porzellanpfauen, von der Kommode und schlägt ihm an der Kante den Kopf ab. Dann packt er den Geschirrschrank; er schüttelt ihn, bis die Scherben aus den Fächern hageln. Dann fliegt der Gummibaum samt Topf durch ein Fenster und ein Winterfenster; auf der Straße knallt es. „Er schlachtet die Buben ab! kreischt Rosa durchs Treppenhaus. Auf allen Stockwerken öffnen sich Türen. Ein wildes Gerenne nach oben. Man versammelt sich um Rosa, die verdattert an der Wand steht und in die offene Wohnung zeigt. Als erster wagt sich Herr Hansmann in die Stube, betrachtet die Zerstörungen; ein Glitzern kommt in seine Augen, und er sagt: „Mein lieber Känsterle, ist das alles? Elend hockt der Weihnachtsmann im Sessel, während Paul und Konradle unter dem Sofa hervorkriechen. Ein kalter Wind zieht durch die Stube. 11 Günter Grass: Die Linkshänder Erich beobachtet mich. Auch ich lasse kein Auge von ihm. Beide halten wir Waffen in der Hand, und beschlossen ist, dass wir diese Waffen gebrauchen, einander verletzen werden. Unsere Waffen. sind geladen. In langen Übungen erprobte, gleich nach den Übungen sorgfältig gereinigte Pistolen halten wir vor uns, das kühle Metall langsam erwärmend. Auf die Länge nimmt sich solch ein Schießeisen harmlos aus. Kann man nicht einen Füllfederhalter, einen gewichtigen Schlüssel so halten und einer schreckhaften Tante mit dem gespreizten schwarzen Lederhandschuh einen Schrei abkaufen? Nie darf in mir der Gedanke reifen, Erichs Waffe könnte blind, harmlos, ein Spielzeug sein. Auch weiß ich, dass Erich keine Sekunde an der Ernsthaftigkeit meines Werkzeuges zweifelt. Zudem haben wir, etwa vor einer halben Stunde, die Pistolen auseinander genommen, gereinigt, wieder zusammengesetzt, geladen und entsichert. Wir sind keine Träumer. Zum Ort unserer unvermeidlichen Aktion haben wir Erichs Wochenendhäuschen bestimmt. Da das einstöckige Gebäude mehr als eine Wegstunde von der nächsten Bahnstation, also recht einsam liegt, dürfen wir annehmen, dass jedes unerwünschte Ohr, in des Wortes wahrer Bedeutung, weitab vom Schuss sein wird. Das Wohnzimmer haben wir ausgeräumt und die Bilder, zumeist Jagdszenen und Wildbretstilleben, von den Wänden genommen. Die Schüsse sollen ja nicht den Stühlen, warmglänzenden Kommoden und reichgerahmten Gemälden gelten. Auch wollen wir nicht den Spiegel treffen oder ein Porzellan verletzen. Nur auf uns haben wir es abgesehen. Wir sind beide Linkshänder. Wir kennen uns vom Verein her. Sie wissen, dass die Linkshänder dieser Stadt, wie alle, die ein verwandtes Gebrechen drückt, einen Verein gegründet haben. Wir treffen uns regelmäßig und versuchen unseren anderen, leider so ungeschickten Griff zu schulen. Eine Zeitlang gab uns ein gutwilliger Rechtshänder Unterricht. Leider kommt er jetzt nicht mehr. Die Herren im Vorstand kritisieren seine Lehrmethode und befanden, die Mitglieder des Vereins sollten aus eigener Kraft umlernen. So verbinden wir nun gemeinsam und zwanglos eigens für uns erfundene Gesellschaftsspiele mit Geschicklichkeitsproben wie: Rechts einfädeln, eingießen, aufmachen und zuknöpfen. In unseren Statuten heißt es: Wir wollen nicht ruhen, bis dass rechts wie links ist. Wie schon und kraftvoll dieser Satz auch sein mag, ist er doch lautester Unsinn. So werden wir es nie schaffen. Und der extreme Flügel unserer Verbindung verlangt schon lange, dass diese Sentenz gestrichen wird und stattdessen geschrieben steht: Wir wollen auf unsere linke Hand stolz sein und uns nicht unseres angeborenen Griffes schämen. Auch diese Parole stimmt sicher nicht, und nur ihr Pathos, *wie auch eine gewisse Großzügigkeit des Gefühls, ließ uns diese Worte wählen. Erich und ich, die wir beide dem extremen Flügel zugezählt werden, wissen zu gut, wie tief verwurzelt unsere Scham ist. Elternhaus, Schule, später die Zeit beim Militär haben nicht dazu beigetragen, uns eine Haltung zu lehren, die diese geringfügige Absonderlichkeit geringfügig im Vergleich mit anderen, weit verbreiteten Abnormitäten mit Anstand ertrüge. Das begann mit dem kindlichen Händchengeben. Diese Tanten, Onkels, Freundinnen mütterlicherseits, Kollegen väterlicherseits, dieses nicht zu übersehende, den Horizont einer Kindheit verdunkelnde, schreckliche Familienfoto. Und allen musste die Hand gegeben werden: „Nein, nicht das unartige Händchen, das brave. Wirst du wohl das richtige Händchen geben, das gute Händchen, das kluge, geschickte, das einzig wahre, das rechte Händchen! Sechzehn Jahre war ich alt und fasste zum ersten Mal ein Mädchen an: „Ach, du bist ja Linkshänder! sagte sie enttäuscht und zog mir die Hand aus der Bluse. Solche Erinnerungen bleiben, und wenn wir dennoch diesen Spruch Erich und ich verfassten ihn in unser Buch schreiben wollen, so soll damit nur die Benennung eines sicher nie zu erreichenden Ideals versucht werden. Nun hat Erich die Lippen aufeinandergepresst und die Augen schmal gemacht. Ich tue das gleiche. Unsere Backenmuskeln spielen, die Stirnhaut spannt sich, schmal werden unsere Nasenrücken. Erich gleicht jetzt einem Filmschauspieler, dessen Züge mir aus vielen abenteuerlichen Szenen vertraut sind. Darf ich annehmen, dass auch mir diese fatale Ähnlichkeit mit einem dieser zweideutigen Leinwandhelden anhaftet? Wir mögen grimmig aussehen, und ich bin froh, dass uns niemand beobachtet. Würde er, der unerwünschte Augenzeuge, nicht annehmen, zwei junge Männer allzu romantischer Natur wollen sich duellieren? Sie haben die gleiche Räuberbraut, oder der eine hat wohl dem anderen Übles nachgesagt. Eine seit Generationen währende Familienfehde, ein Ehrenhandel, ein blutiges Spiel auf Gedeih und Verderb. So blicken sich nur Feinde an. Seht diese schmalen, farblosen Lippen, diese unversöhnlichen Nasenrücken. Wie sie den Hass kauen, diese Todessüchtigen. Wir sind Freunde. Wenn unsere Berufe auch noch so verschieden sind Erich ist Abteilungsleiter in einem Warenhaus, ich habe den gutbezahlten Beruf des Feinmechanikers gewählt können wir doch so viel 12 gemeinsame Interessen aufzählen, als nötig sind, einer Freundschaft Dauer zu verleihen. Erich gehört dem Verein länger an als ich. Gut erinnere ich mich des Tages, da ich schüchtern und viel zu feierlich gekleidet, im Stammlokal der Einseitigen eintrat, Erich mir entgegenkam, dem Unsicheren die Garderobe wies, mich klug, doch ohne lästige Neugierde betrachtete und dann mit seiner Stimme sagte: „Sie wollen sicher zu uns. Seien Sie ganz ohne Scheu; wir sind hier, um uns zu helfen. Ich sagte soeben „die Einseitigen. So nennen wir uns offiziell. Doch auch diese Namengebung scheint mir, wie ein Großteil der Statuten, misslungen. Der Name spricht nicht deutlich genug aus, was uns verbinden und eigentlich auch stärken sollte. Gewiss wären wir besser genannt, würden wir kurz, die Linken, oder klangvoller, die linken Brüder heißen. Sie werden erraten, warum wir verzichten mussten, uns unter diesen Titeln eintragen zu lassen. Nichts wäre unzutreffender und dazu beleidigender, als uns mit jenen, sicher bedauernswerten Menschen zu vergleichen, denen die Natur die einzig menschenwürdige Möglichkeit vorenthielt, der Liebe Genüge zu tun. Ganz im Gegenteil sind wir eine buntgewürfelte Gesellschaft, und ich darf sagen, dass unsere Damen es an Schönheit, Charme und gutem Benehmen mit manch einer Rechtshänderin aufnehmen, ja, würde man sorgfältig vergleichen, ergäbe sich ein Sittenbild,, das manchen, um das Seelenheil seiner Gemeinde besorgten Pfarrer, von der Kanzel ausrufen ließe: „Ach, wäret ihr doch alle Linkshänder! Dieser fatale Vereinsname. Selbst unser erster Vorsitzender, ein etwas zu patriarchalisch denkender und leider auch lenkender höherer Beamter der Stadtverwaltung, Katasteramt, muss dann und wann einräumen, dass wir nicht gutheißen, dass es am Links fehlen würde, dass wir weder die Einseitigen sind, noch einseitig denken, fühlen und handeln. Gewiss sprachen auch politische Bedenken mit, als wir die besseren Vorschläge verwarfen und uns so nannten, wie wir eigentlich nie hätten heißen dürfen. Nachdem die Mitglieder des Parlamentes von der Mitte aus nach der einen oder anderen Seite tendieren und die Stühle ihres Hauses so gestellt sind, dass allein schon die Stuhlordnung die politische Situation unseres Vaterlandes verrät, ist es zur Sitte geworden, einem Schreiben, einer Rede, in der das Wörtchen links mehr als einmal vorkommt, eine gefährliche Radikalität anzudichten. Nun, hier mag man ruhig sein. Wenn ein Verein unserer Stadt ohne politische Ambitionen auskommt und nur der gegenseitigen Hilfe, der Geselligkeit lebt, dann ist es der unsrige. Um nun noch jedem Verdacht erotischer Abwegigkeit hier und für alle Zeit die Spitze abzubrechen, sei kurz erwähnt, dass ich unter den Mädchen unserer Jugendgruppe meine Verlobte gefunden habe. Sobald für uns eine Wohnung frei wird, wollen wir heiraten. Wenn eines Tages der Schatten schwinden wird, den jene erste Begegnung mit dem weiblichen Geschlecht auf mein Gemüt warf, werde ich diese Wohltat Monika verdanken können. Unsere Liebe hat nicht nur mit den allbekannten und in vielen Büchern beschriebenen Problemen fertig werden müssen, auch unser manuelles Leiden musste verwunden und fast verklärt werden, damit es zu unserem kleinen Glück kommen konnte. Nachdem wir in der ersten, begreiflichen Verwirrung versucht hatten, rechtshändig einander gut zu sein, und bemerken mussten, wie unempfindlich diese unsere taube Seite ist, streicheln wir nur noch geschickt, das heißt, wie uns der Herr geschaffen hat. Ich verrate nicht zuviel und hoffe auch, nicht indiskret zu sein, wenn ich hier andeute, dass es immer wieder Monikas liebe Hand ist, die mir die Kraft gibt, auszuharren und das Versprechen zu halten. Gleich nach dem ersten, gemeinsamen Kinobesuch habe ich ihr versichern müssen, dass ich ihr Mädchentum schonen werde, bis dass wir uns die Ringe hier leider nachgebend und das Ungeschick einer Veranlagung bekräftigend an die rechten Ringfinger stecken. Dabei wird in südlichen, katholischen Ländern das goldene Zeichen der Ehe links getragen, wie denn auch wohl in jenen sonnigen Zonen mehr das Herz, als der unerbittliche Verstand regiert. Vielleicht um hier auf Mädchenart zu revoltieren und zu beweisen, in welch eindeutiger Form die Frauen argumentieren können, wenn ihre Belange gefährdet zu sein scheinen, haben die jüngeren Damen unseres Vereins in emsiger Nachtarbeit unserer grünen Fahne die Inschrift gestickt: Links schlägt das Herz. Monika und ich haben diesen Augenblick des Ringewechselns nun schon so oft besprochen und sind doch immer wieder zu demselben Ergebnis gekommen: Wir können es uns nicht leisten, vor einer unwissenden, nicht selten böswilligen Welt als Verlobte zu gelten, wenn wir schon lang ein getrautes Paar sind und alles, das Große und das Kleine, miteinander teilen. Oft weint Monika wegen dieser Ringgeschichte. Wie wir uns auch auf diesen unseren Tag freuen mögen, wird denn wohl doch ein leichter Trauerschimmer auf all den Geschenken, reichgedeckten Tischen und angemessenen Feierlichkeiten liegen. Nun zeigt Erich wieder sein gutes, normales Gesicht. Auch ich gebe nach, verspüre aber dennoch eine Zeitlang diesen Krampf in der Kiefermuskulatur. Zudem zucken noch immer die Schläfen. Nein, ganz gewiss standen uns 13 diese Grimassen nicht. Unsere Blicke treffen sich ruhiger und deshalb auch mutiger; wir zielen. Jeder meint die gewisse Hand des anderen. Ich bin ganz sicher, dass ich nicht fehlen werde; und auch auf Erich kann ich mich verlassen. Zu lange haben wir geübt, fast jede freie Minute in einer verlassenen Kiesgrube am Stadtrand zugebracht, um heute, da sich so vieles entscheiden soll, nicht zu versagen. Ihr werdet schreien, das grenzt an Sadismus, nein, das ist Selbstverstümmelung. Glaubt mir, all diese Argumente sind uns bekannt. Nichts, kein Verbrechen haben wir uns nicht vorgeworfen. Wir stehen nicht zum ersten Mal in diesem ausgeräumten Zimmer. Viermal sahen wir uns so bewaffnet, und viermal ließen wir, erschreckt durch unser Vorhaben, die Pistolen sinken. Erst heute haben wir Klarheit. Die letzten Vorkommnisse persönlicher Art und auch im Vereinsleben geben uns recht, wir müssen es tun. Nach langem Zweifel wir haben den Verein, das Wollen des extremen Flügels in Frage gestellt greifen wir nun endgültig zu den Waffen. So bedauerlich es ist, wir können nicht mehr mitmachen. Unser Gewissen verlangt, dass wir uns von den Gepflogenheiten der Vereinskameraden distanzieren. Hat sich doch da ein Sektierertum breit gemacht, und die Reihen der Vernünftigsten sind mit Schwärmern, sogar Fanatikern durchsetzt. Die einen himmeln nach rechts, die anderen schwören auf links. Was ich nie glauben wollte, politische Parolen werden von Tisch zu Tisch geschrieen, der widerliche Kult des eidbedeutenden, linkshändigen Nägeleinschlagens wird so gepflegt, dass manche Vorstandssitzung einer Orgie gleicht, in der es gilt, durch heftiges und besessenes Hämmern in Ekstase zu geraten. Wenn es auch niemand laut ausspricht und die offensichtlich dem Laster Verfallenen bislang kurzerhand ausgestoßen wurden, es lässt sich nicht leugnen: jene verfehlte und mir ganz unbegreifliche Liebe zwischen Geschlechtsgleichen hat auch bei uns Anhänger gefunden. Und um das Schlimmste zu sagen: Auch mein Verhältnis zu Monika hat gelitten. Zu oft ist sie mit ihrer Freundin, einem labilen und. sprunghaften Geschöpf, zusammen. Zu OÄ wirft sie mir Nachgiebigkeit und mangelnden Mut in jener Ringgeschichte vor, als dass ich glauben könnte, es sei noch dasselbe Vertrauen zwischen uns, es sei noch dieselbe Monika, die ich, nun immer seltener, im Arm halte. Erich und ich versuchen jetzt gleichmäßig zu atmen. Je mehr wir auch hierin übereinstimmen, umso sicherer werden wir, dass unser Handeln vom guten Gefühl gelenkt wird. Glaubt nicht, es ist das Bibelwort, welches da rät, das Ärgernis auszureißen. Vielmehr ist es der heiße, immerwährende Wunsch, Klarheit zu bekommen, noch mehr Klarheit, zu wissen, wie steht es um mich, ist dieses Schicksal unabänderlich oder haben wir es in der Hand, einzugreifen und unserem Leben eine normale Richtung zu weisen? Keine läppischen Verbote mehr, Bandagen und ähnliche Tricks. Rechtschaffen wollen wir in freier Wahl und durch nichts mehr vom Allgemeinen getrennt neu beginnen und eine glückliche Hand haben. Jetzt stimmt unser Atem überein. Ohne uns ein Zeichen zu geben, haben wir gleichzeitig geschossen. Erich hat getroffen, und auch ich habe ihn nicht enttäuscht. Jeder hat, wie vorgesehen, die wichtige Sehne so unterbrochen, dass die Pistolen, nicht mehr kraftvoll genug gehalten, zu Boden fielen und damit nun jeder weitere Schuss überflüssig ist. Wir lachen und beginnen unser großes Experiment damit, ungeschickt, weil nur auf die rechte Hand angewiesen, die Notverbände anzulegen. 14 Marie Luise Kaschnitz: Eisbären Endlich, dachte sie, als sie hörte, wie sich der Schlüssel im Türschloss drehte. Sie hatte schon geschlafen und war erst von diesem Geräusch aufgewacht; nun wunderte sie sich, dass ihr Mann im Vorplatz kein Licht anmachte, das sie hätte sehen müssen, da die Tür zum Vorplatz halb offen Stand. Walther, sagte sie, und fürchtete einige Minuten lang, es sei gar nicht ihr Mann, der die Tür aufgeschlossen hatte, sondern ein Fremder, ein Einbrecher, der jetzt vorhatte, in der Wohnung herumzuschleichen und die Schränke und Schubladen zu durchsuchen. Sie überlegte, ob es wohl besser sei, wenn sie sich schlafend stellte, aber dann könnte ihr Mann heimkommen, während der Einbrecher noch in der Wohnung war, und dieser könnte aus dem Dunkeln auf ihn schießen. Darum beschloss sie, trotz ihrer großen Angst, Licht, zu machen und nachzusehen, wer da war. Aber gerade, als sie ihre Hand ausstreckte, um an der Kette der Nachttischlampe zu ziehen, hörte sie die Stimme ihres Mannes, der in der Türe stand. Mach kein Licht, sagte die Stimme. Sie ließ ihre Hand sinken und richtete sich ein wenig im Bett auf. Ihr Mann sagte nichts mehr und rührte sich auch nicht, und sie fragte sich, ob er sich vielleicht auf den Stuhl neben der Türe gesetzt hatte, weil er zu erschöpft war, um ins Bett zu gehen. Wie war es, fragte sie. Was, fragte ihr Mann. Alles heute, sagte sie. Die Verhandlung. Das Essen. Die Fahrt. Davon wollen wir jetzt nicht sprechen, sagte ihr Mann. Wovon wollen wir sprechen, fragte sie. Von damals, sagte ihr Mann. Ich weiß nicht, was du damit meinst, sagte sie. Sie versuchte vergeblich, die Dunkelheit mit ihren Blicken zu durchdringen, und ärgerte sich über ihre Gewohnheit, die Fensterläden ganz fest zu schließen und auch noch die dicken blauen Vorhänge vorzuziehen. Sie hätte gerne gesehen, ob ihr Mann da noch in Hut und Überzieher stand, was bedeuten konnte, dass er die Absicht hatte, noch einmal fortzugehen, oder dass er getrunken hatte und nicht mehr imstande war, einen vernünftigen Entschluss zu fassen. Ich meine den Zoo, sagte der Mann. Sie hörte seine Stimme immer noch von der Tür her, was da sie eine altmodische Wohnung und ein hohes großes Schlafzimmer hatten bedeutete, von weit weg. Den Zoo, sagte sie erstaunt. Aber dann lächelte sie und legte sich in die Kissen zurück. Im Zoo haben wir uns kennen gelernt. Weißt du auch wo, fragte der Mann. Ich glaube schon, dass ich es noch weiß, sagte die Frau. Aber ich sehe nicht ein, weshalb du dich nicht ausziehst und ins Bett gehst. Wenn du noch Hunger hast, bringe ich dir etwas zu essen. Ich kann es dir ins Bett bringen, oder wir setzen uns in die Küche und du isst dort. Sie schlug die Decke zurück, um aufzustehen, aber obwohl es für ihren Mann genauso dunkel sein musste wie für sie selbst, schien er doch gesehen zu haben, was sie vorhatte. Stell nicht auf, sagte er, und mach das Licht nicht an. Ich will nicht essen und wir können im Dunkeln reden. Sie wunderte sich über den fremden Klang seiner Stimme und auch darüber, dass er, obwohl er doch sehr müde sein musste, nichts anderes im Sinne hatte als von den alten Zeiten zu reden. Sie waren jetzt fünf Jahre lang verheiratet, aber jeder Tag der Gegenwart schien ihr schöner und wichtiger als alle vergangenen Tage. Da ihm aber so viel daran zu liegen schien, dass sie seine Frage beantwortete, streckte sie sich wieder aus und legte ihre Hände hinter ihren Kopf. Bei den Eisbären, sagte sie. Die Fütterung war gerade vorbei. Die Eisbären waren von ihren Felsen ins Wasser geglitten und hatten nach den Fischen getaucht. Jetzt standen sie wieder auf ihren Felsen, schmutzig weiß, und – Und was, fragte ihr Mann streng. Du weißt doch, was die Eisbären machen, sagte sie. Sie bewegen ihren Kopf von der einen Seite zur anderen, unaufhörlich hin und her. Wie du, sagte ihr Mann. Wie ich, fragte sie erstaunt und begann für sich im Dunkeln die Bewegung nachzuahmen, die sie soeben beschrieben hatte. Du hast auf jemanden gewartet, sagte ihr Mann. Ich habe dich beobachtet. Ich kam von den großen Vögeln, die ganz ruhig auf ihren Ästen sitzen und sich dann plötzlich 15 herabstürzen und einmal im Kreis herumfliegen, wobei sie mit ihren Flügelspitzen die Gitter streifen. Bei den Eisbären, sagte die Frau, gibt es keine Gitter. Du hast auf jemanden gewartet, sagte ihr Mann. Du hast den Kopf bald nach dieser, bald nach jener Seite gedreht. Der, auf den du gewartet hast, ist aber nicht gekommen. Die Frau lag jetzt ganz still unter ihrer Decke. Sie hatte das Gefühl, auf der Hut sein zu müssen, und sie war auf der Hut. Ich habe auf niemanden gewartet, sagte sie. Als ich dich eine Weile lang beobachtet hatte, sagte ihr Mann, bin ich auf dem Weg weitergegangen und habe mich neben dich gestellt. Ich habe ein paar Späße über die Eisbären gemacht und auf diese Weise sind wir ins Gespräch gekommen. Wir haben uns auf eine Bank gesetzt und die Flamingos betrachtet, die ihre rosigen Hälse wie Schlangen bewegten. Es war nicht mehr so heiß und es war sogar ein Hauch von Spätsommer in der Luft. Damals habe ich angefangen zu leben, sagte die Frau. Das glaube ich nicht, sagte ihr Mann. Zieh dich doch aus, sagte die Frau, oder mach das Licht an. Sitzt du wenigstens auf einem Stuhl? Ich sitze und stehe, sagte der Mann. Ich liege und fliege. Ich möchte die Wahrheit wissen. Die Frau fing an, in ihrem warmen Bett vor Kälte zu zittern. Sie fürchtete, dass ihr Mann, der ein fröhlicher und freundlicher Mensch war, den Verstand verloren habe. Zugleich aber erinnerte sie sich auch daran, dass sie an jenem Nachmittag im Zoo wirklich auf einen anderen gewartet hatte, und es erschien ihr nicht ausgeschlossen, dass ihr Mann diesen anderen heute getroffen und von ihm alles mögliche erfahren hatte. Was für eine Wahrheit, fragte sie, um einen Augenblick Zeit zu gewinnen. Ich habe dich, sagte ihr Mann, damals nach Hause gebracht. Wir sind noch ein paar Mal zusammen spazieren und auch einige Male abends ausgegangen. Jedes Mal habe ich dich gefragt, ob du an jenem Nachmittag im Zoo auf einen anderen Mann gewartet hast und ob du vielleicht immer noch auf ihn wartest und ihn nicht vergessen kannst. Du hast aber jedes Mal den Kopf geschüttelt und nein gesagt. Das war die Wahrheit, sagte die Frau. Es mochte sein, dass draußen der Morgen schon anbrach, vielleicht hatten sich ihre Augen auch endlich an die Dunkelheit gewöhnt. Jedenfalls tauchten jetzt ganz schwach die Umrisse des Zimmers vor ihr auf. Sie sah aber ihren Mann nicht und das beunruhigte sie sehr. Das war nicht die Wahrheit, sagte der Mann. Nein, dachte die Frau, er hat Recht. Ich bin mit ihm spazierengegangen und abends tanzen gegangen und jedes Mal habe ich mich heimlich umgesehen nach dem Mann, den ich geliebt habe und der mich verlassen hat. Ich habe Walther gern gehabt, aber ich habe ihn nicht aus Liebe geheiratet, sondern weil ich nicht allein bleiben wollte. Sie war plötzlich sehr müde und es kam ihr in den Sinn, alles das zuzugeben, was sie so lange geleugnet hatte. Vielleicht, wenn sie es zugäbe, würde ihr Mann aus dem Dunkeln herüberkommen und sich zu ihr auf den Bettrand setzen. Sie würde ihm sagen, wie es gewesen war, und wie es jetzt war, dass sie jetzt ihn liebte und dass ihr der andere Mann vollständig gleichgültig geworden war. Sie zweifelte nicht daran, dass es ihr, wenn sie nur ihre Arme um seinen Hals legen konnte, gelingen würde, ihn davon zu überzeugen, dass es so etwas gab, dass eine Liebe erwachen und jeden Tag wachsen kann, während eine andere abstirbt und am Ende nichts ist als ein Kadaver, vor dem es einem graut. Walther, sagte sie, nicht Schatz, nicht Liebling, sie nannte nur seinen Namen, aber sie streckte im Dunkeln ihre Arme nach ihm aus. Aber ihr Mann kam nicht herüber, um sich zu ihr auf den Bettrand zu setzen. Er blieb, wo er war und wo sie nicht einmal die Umrisse seiner Gestalt wahrnehmen konnte. Ich war, sagte er, damals noch nicht lange in München. Es war dein Vorschlag, dass ich die Stadt erst einmal richtig kennen lernen sollte. Weil wir noch keinen Wagen hatten, fuhren wir jeden Sonntag mit einem anderen Verkehrsmittel in eine andere Richtung, stiegen an der Endstation aus und gingen spazieren. Immer ist es mir vorgekommen, als ob du auf diesen Spaziergängen jemand suchtest. Immer hast du deinen Kopf nach rechts und nach links gewendet wie die Eisbären, die die Freiheit suchen, oder etwas, von dem wir nichts wissen, und ich habe dich oft meinen Eisbären genannt. Ja, sagte die Frau mit erstickter Stimme. Sie erinnerte sich daran, dass ihr Mann ihr in den ersten Monaten ihrer Ehe diesen Namen gegeben hatte. Sie hatte geglaubt, er täte das in 16 Erinnerung an ihr erstes Zusammentreffen im Zoologischen Garten, oder weil sie so dicke weißblonde Haare hatte, die ihr manchmal wie eine Mähne auf der Schulter hingen. Es war aber, wie sich jetzt herausstellte, kein Kosewort, sondern ein Verdacht. Später, sagte sie, als wir den Wagen hatten, sind wir am Sonntag ins Freie gefahren. Wir sind durch den Wald gelaufen und haben auf einer Wiese in der Sonne gelegen und geschlafen, du mit deinem Kopf auf meiner Brust. Wenn wir aufgewacht sind, waren wir ganz benommen von der Sonne und dem Starken Wind. Es ist uns schwer gefallen, die richtige Richtung einzuschlagen, und einmal haben wir viele Stunden gebraucht, um den Wagen wieder zu finden. Weißt du das noch, fragte sie. Aber ihr Mann ging auf diese Erinnerung nicht ein. Wir sind ihm einmal begegnet, sagte er. Ach, hör doch auf, sagte die Frau plötzlich ärgerlich. Geh etwas essen oder lass mich Licht anzünden und aufstehen und dir etwas zu essen bringen. Es ist noch ein halbes Hähnchen im Kühlschrank und Bier. Aber während sie das sagte, wusste sie schon, dass ihr Mann auf ihren Vorschlag nicht eingehen würde. Sie überlegte, womit sie ihn von seinen Gedanken abbringen könnte und es fiel ihr nichts ein. Du hast morgen einen schlimmen Tag, sagte sie schließlich, du musst bis zum Abend die Abrechnungen fertig haben und wenn du nicht ausgeschlafen bist, wird dir alles noch schwerer fallen. Wir sind ihm einmal begegnet, sagte ihr Mann wieder. Die Frau krallte ihre Hände in die Bettdecke und wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Wenn es nur hell wäre, dachte sie. Ihr Mann hatte ihr zu Weihnachten einen Toilettetisch geschreinert mit einem Kretonnevorhang und einer Glasplatte, und sie hatte ihm einen Lampenschirm gebastelt und diesen mit den Gräsern und Moosen, die sie im Sommer gesammelt und gepresst hatten, verziert. Sie war überzeugt davon, dass diese Dinge, wenn man sie nur sehen könnte, ihr beistehen würden, ihren Mann davon zu überzeugen, dass sie ihn liebte und dass auch er selbst seinen alten Argwohn längst vergessen hatte. Wir sind, sagte ihr Mann zum dritten Mal, ihm einmal begegnet, und er sagte es mit seiner Stimme von heute Abend, die so eintönig und merkwürdig klang. Wir sind die Ludwigstraße hinuntergegangen auf das Siegestor zu, es war ein schöner Abend und es war eine Menge Leute unterwegs. Du hast niemanden besonders angeschaut, es ist auch niemand stehen geblieben und es hat dich auch niemand gegrüßt. Ich hatte aber meinen Arm in den deinen gelegt und plötzlich habe ich gemerkt, dass du angefangen hast, am ganzen Körper zu zittern. Dein Herz hat aufgehört zu schlagen und das Blut ist aus deinen Wangen gewichen. Erinnerst du dich daran? Ja, ja, wollte die Frau rufen, ich erinnere mich gut. Es war das erste Mal, dass ich meinen ehemaligen Liebhaber wieder gesehen habe, und es war auch das letzte Mal. Mein Herz hat wirklich aufgehört zu schlagen, aber dann hat es wieder angefangen und so, als wäre es ein ganz anderes Herz. Während das schöne kalte Gesicht meines ehemaligen Liebhabers in der Menge verschwunden ist, hat es sich in Nichts aufgelöst, und ich habe mich später an seine Züge nie mehr erinnern können. Das alles wollte die Frau ihrem Mann sagen und ihn auch daran erinnern, dass sie sich damals auf der Straße an ihn gedrängt hatte und versucht hatte, ihn zu küssen. Sie zweifelte aber plötzlich daran, dass ihr Mann ihr glauben würde. Sie halte das Gefühl, als stände hinter seinen Worten eine Unruhe, die sie nicht würde stillen, und eine Angst, die sie ihm nicht würde ausreden können, jedenfalls nicht in dieser Nacht. Ich erinnere mich an unseren Spaziergang, sagte sie und versuchte ihrer Stimme einen gleichgültigen Klang zu geben. Ich habe keinen Bekannten gesehen. Ich habe so etwas wie einen Schüttelfrost gehabt, eine kleine Erkältung, und am Abend habe ich auch Fieber bekommen. Ist das wahr, fragte der Mann. Ja, antwortete die Frau. Sie war traurig, dass sie nicht die Wahrheit sagen durfte, die doch viel schöner war als alles, was ihr Mann von ihr hören wollte. Sie war jetzt sehr müde und hätte gerne geschlafen, aber vor allem lag ihr daran zu wissen, was in ihren Mann gefahren war und warum er kein Licht anzünden und nicht zu Bett gehen wollte. 17 Dann ist also auch das andere wahr, sagte der Mann, mit einem Schimmer von Hoffnung in der Stimme. Was, fragte die Frau. Das vom Zoo, sagte der Mann. Dass du auf keinen anderen gewartet hast. Ich habe auf dich gewartet, sagte die Frau. Ich habe dich nicht gekannt, aber man kann auch auf jemanden warten, den man noch nie gesehen hat. Du hast mich, sagte der Mann, also nicht genommen, weil du von einem ändern Mann im Stich gelassen worden bist. Du hast mich geliebt. Noch einmal dachte die Frau, wie schmählich es von ihr war, dass sie hier lag und ihren .Mann anlog, und noch einmal richtete sie sich auf und wollte die Wahrheit sagen. Es kam aber von der Tür her ein merkwürdiges Geräusch, das wie ein tiefes verzweifeltes Stöhnen klang. Er ist krank, dachte sie erschrocken, und legte sich wieder in die Kissen zurück und sagte laut und deutlich: Ja. Dann ist es gut, sagte der Mann. Er flüsterte jetzt nur noch. Vielleicht hatte er auch die Schlafzimmertür von außen zugezogen und war im Begriff, die Wohnung wieder zu verlassen. Die Frau sprang aus dem Bett, sie riss an der Kette der Nachttischlampe und gerade, als habe sie damit eine Klingel in Bewegung gesetzt, begann es vom Flur her laut und heftig zu schellen. Das Zimmer war hell und leer, und als die Frau auf den Vorplatz lief, sah sie ihren Mann auch dort draußen nicht. Obwohl das Haus, in dem die jungen Eheleute wohnten, ein altmodisches Haus war, gab es seit kurzem in allen Wohnungen Drücker, mit deren Hilfe man die Haustüre öffnen konnte. Walther, sagte die Frau unglücklich. Sie drückte auf den Knopf und öffnete zugleich schon die Wohnungstür und horchte hinaus. Sie wohnten fünf Stockwerke hoch, und fünf Stockwerke lang hörte sie die schweren Schritte, die die Treppe heraufkamen und die, wie sich herausstellte, die Schritte von Polizeibeamten waren. Ihr Mann, sagten die Männer, als sie der Frau auf dem Treppenabsatz gegenüberstanden, sei bei der Ausfahrt von der Autobahn mit einem anderen Wagen zusammengestoßen und schwer verletzt worden. Und als sie das gesagt und eine Weile in das erstaunte Gesicht der Frau geschaut hatten, fügten sie hinzu, dass der Verunglückte sich jetzt auf dem Weg ins Krankenhaus befände, dass aber die Sanitäter, die Ihn in den Wagen getragen hätten, der Ansicht gewesen seien, dass er den Transport nicht überleben würde. Das kann nicht sein, sagte die Frau ganz ruhig, es muss sich um eine Verwechslung handeln. Ich habe mit meinem Mann noch eben gesprochen, er ist in der Wohnung, er ist bei mir. Hier, fragten die Männer überrascht, wo denn, und gingen in die Küche und gingen ins Wohnzimmer und drehten überall die Lampen an. Da sie niemanden fanden, redeten sie der Frau gut zu, sich anzuziehen und sie ins Krankenhaus zu begleiten, und die Frau zog sich auch an, bürstete ihre langen weißblonden Haare und ging mit den Polizisten die Treppe hinunter. Auf der Fahrt saß die Frau zwischen den Männern, die versuchten, freundlich zu sein, und deren schwere Wollmäntel nach Regen rochen. Sie hatte ihren Spaß daran, dass der Fahrer das Martinshorn gellen ließ und alle roten Lichter überfuhr. Schneller, sagte sie, schneller, und die Polizisten glaubten, dass sie Angst habe, ihren Mann nicht mehr am Leben zu finden. Aber sie wusste gar nicht, warum sie in dem Wagen saß und wohin es ging. Die Worte „schneller, schneller sagte sie ganz mechanisch, und ganz mechanisch drehte sie ihren Kopf von links nach rechts und von rechts nach links, wie es die Eisbären tun. 18 Günter Kunert: Lieferung frei Haus Im Straßenbild: keine merkliche Veränderung. Vielleicht rollten mehr Lastwagen als sonst durch die Stadt. Doch das fiel höchstens perfekten Verkehrspolizisten auf. Keineswegs auffiel, jedenfalls nicht zuerst, dass nach allabendlichem Aufkommen der Dunkelheit wie auch im Dämmer einsamer Morgen diese Lastwagen, die bis dahin scheinbar ziellos durch die Straßen gekurvt, plötzlich vor dem oder jenem Haus stehen blieben, um etwas Kastenförmiges, Kistenartiges, Hölzern-Kubisches aus sich zu entlassen, womit Fahrer und Gehilfen gewöhnlich überaus eilig im Haustor verschwanden. Manchmal schleppten sie an oder sogar über die zehn Stücke in einen Wohnblock, so dass sich sehr späte oder sehr frühe Passanten wunderten, was da wohl wohin getragen würde und zu welchem Zweck. Zu denen, die eines Morgens erstaunt einen derartigen Vorgang beobachteten, gehörte Friedrich W. Schmall. Er kehrte vom Nachtdienst heim und sah sofort den Wagen, aus dem lang gestreckte Kästen in sein Haus geschafft wurden. Auf der Treppe versuchte er von den Trägern etwas über ihre Lasten zu erfahren, aber sie bliesen ihm nur keuchend ihren Atem ins Gesicht und stießen unverständliche Laute der Anstrengung aus. Im ersten Stockwerk, dem unter seinem, bemerkte Schmall eine offene Wohnungstür, hinter der sich bereits viele solcher Kisten türmten; weiterhin erhielt er im Vorbeigehen einen undeutlichen Eindruck von dem Gesicht des Wohnungsinhabers, das einer bleichen, großen Blase ähnelte, schweißnass, mit zwei schwarzen Knöpfen besetzt: schreckensstarren Pupillen. Am hellen Tage, als Schmall nach Brot hinunterlief, erhob sich vor ihm auf den Stufen die Portiersfrau und versperrte den weiteren Weg. Während sie die wassertriefenden Hände an der Schürze trocknete, fragte sie flüsternd, ob er schon wisse? Schmall wusste nichts. Aus ihrem Mund, den sie angstvoll fast an sein Ohr drückte, hauchte es: „Herr Helmbrecht hat Leichen bekommen. Stücker zwölf. Damit schlagartig den unglaublichen Anschein bestätigend, den die Kisten erweckt hatten. Aber warum und weshalb Herr Helmbrecht sich sorgfältig verpackte tote Leute in die Wohnung liefern ließ, konnte Schmall nicht begreifen. Auch darüber klärte ihn die Portiersfrau auf: „Nicht doch, nicht bringen lassen. Er musste sie nehmen. Es sind die, die er selber umgebracht hat. Ich weiß es! Hastig kniete sie sich wieder hin, den Kopf über den filzigen Scheuerlappen gebeugt, zu keinem Gespräch mehr bereit, taub für Schmall, der nach einer Weile echolosen Fragens die Achseln zuckte und weiter abwärts stieg, von Hunger getrieben. In der Bäckerei bediente ihn die Frau des Bäckermeisters; ihr fülliger Leib, sonst von ihm lüstern gemustert, wirkte heute spannungsleer und krank. Gerötet die früher lebhaften Augen und verweint, erneut wässrig glitzernd, als sie ihm auf seine unvorsichtige Frage Auskunft gab; Ihr Mann habe des Nachts einen schweren Anfall erlitten, einen Herzinfarkt, und als Grund bezeichnete sie stockend eine Greisin: „Die hat mein Mann mit dem Wagen umgefahren. Jahre ist das nun her Jahre! Er wurde freigesprochen, weil die Straße regenglatt war. Und jetzt bringen sie uns die Leiche. Ihre Stimme hob sich zu nie gekannter Schrillheit: „Wegen Oberfüllung der Friedhöfe. Und wegen der Verantwortlichkeit für Rentnerin Elsa Niedermaiers Ableben, welche erst recht nach demselben zum Tragen zu kommen hat, wie amtlicherseits verfügt wurde. Hier ist der Frachtzettel! Sie schwenkte schluchzend ein Papier. Friedrich W. Schmall schaute betreten auf die wulstigen und geborstenen Lippen der vielen Brötchen, die ihm kein tröstendes, mitfühlendes Wort soufflieren wollten. Sogar: Im Grunde seines Herzens (da, wo es am tiefsten ist) räkelte sich gemeine Zufriedenheit: Recht geschieht dem Bäcker! Fast hätte Schmall gelacht. In seiner Kehle meldete sich ein hüpfendes Glucksen: Recht geschieht ihm, dem Nahrungsgewinnler! Rasch ging er aus dem Laden. Beschwingt lief er zurück. In seine Straße einbiegend, erblickte er einen himmelblau lackierten Kühlwagen, der brummend anfuhr. Schmall stand still, und der Wagen zog dicht an ihm vorbei. Er erkannte Im Halbdunkel des Fahrerhauses nur wenige Einzelheiten: apoplektische Wangen, unnatürlich glänzende Augen, einen kurzen, glimmenden Zigarrenstummel in einem fröhlich auf gewölbten Mundwinkel; schattiges Sichregen, das weiterglitt und verschwand. 19 Leute hatten sich vor dem. Nebenhaus angesammelt, die Köpfe ins Genick gebogen, interessiert an einem bestimmten Fenster. Schmall erfuhr, dorthinauf wären vierzig Kisten getragen worden. Jemand sagte: „Seine Wohnung muss gerammelt voll sein! Ein anderer: „Kein Platz mehr da oben. Der Oberpostsekretär sitzt schon im Klosett. Ein älterer Mann murmelte so leise, dass es keiner der Umstehenden außer Schmall vernehmen konnte: „Das hat er sicher nicht gedacht, als er sie erschoss. Eigenhändig übrigens. Sie hatten genug vom Krieg, aber nicht der Oberpostsekretär. Damals war er das auch noch gar nicht. Schmall fragte leise vor sich hin: „Was wird er jetzt tun? Der andere hob schmetterlingsleicht die Schultern und sagte in normaler Lautstärke: „Man weiß nicht genau, was die Belieferten machen. Ein Mann ist gestern festgenommen worden, als er Leichenteile in eine Mülltonne stopfte. Es handelte sich dabei um Teile seiner Frau, und er hatte sie eines Hauses wegen geheiratet. „Er hat sie umgebracht?! „Nicht so, wie Sie denken Der ältere Mann grüßte höflich und wandte sich fort. Die Leute liefen auseinander, weil ja doch nichts geschah. Schmall betrat sein Haus, darüber grübelnd, wie die Lieferanten eigentlich die Verantwortlichkeit der Empfänger feststellen mochten. Und wie hoch musste denn der Schuldanteil sein, damit eine Leiche auf diesen entfiel? Eine bisher unbekannte Art von ausgleichender Gerechtigkeit war hierbei am Werk, die Schmall bedrückte. Wenn nun Irrtümer unterliefen, die ohne weiteres möglich waren, denn die Gerechtigkeit bringt immer Irrtümer mit sich, und ein völlig Unschuldiger durch eine fehlgeleitete Fracht zu Tode erschreckt würde wer wohl bekäme dessen entschlummerte Physis? Unzufrieden schlang Schmall seine