Arbeitsblatt: Die Rückeroberung - Franz Hohler

Material-Details

Leitfragen zu der Kurzgeschichte Interview mit Franz Hohler 40 Jahre danach
Deutsch
Leseförderung / Literatur
8. Schuljahr
11 Seiten

Statistik

203510
267
6
18.10.2022

Autor/in

Philipp Loretz
Land: Schweiz
Registriert vor 2006

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Textauszüge aus dem Inhalt:

Die Rückeroberung von Franz Hohler Textverständnis 1. Warum werden die Adler von der Stadtbehörde schliesslich geduldet? 2. Welches Ereignis lässt vermuten, dass Hirsche in der Stadt ihr Unwesen treiben? 3. Welche Schäden verursachen Tiere und Pflanzen? Ordne (Oberbegriffe Ausmass der Schäden) und stelle übersichtlich dar. 4. Welches sind die gefährlichsten Tiere? Begründe deine Wahl. Welche drei Tiere sind für dich persönlich die gefährlichsten? Erstelle eine Rangliste (Platz 1 bis 3). 5. Wie gehen die Leute und die Stadtbehörde vor, um das Vordringen der Natur zu einzudämmen? Welche Massnahmen zeigen Wirkung, welche nicht? Stelle übersichtlich dar: Tabelle oder eine andere geeignete Form. 6. Zu welchem Zeitpunkt gerät die Situation deiner Meinung nach ausser Kontrolle? Zitiere die Stelle und erläutere deine Wahl. Seite, Zeile «») Erläuterung: 7. Wie reagieren die Menschen auf die veränderte Umwelt? Wie verändert sich das Zusammenleben der Menschen dadurch? Nenne mehrere Verhaltensweisen und deren Auswirkungen. Wie beurteilst du diese Veränderungen? Nach welchen Gesichtspunkten könnte man sie ordnen? 8. Wie hättest du reagiert, was hättest du unternommen? Wähle zwei Situationen und erkläre, wie du dich verhalten hättest was du unternommen hättest wie du dich gewehrt resp. gerettet hättest. 9. Welche drei Stellen zeigen für dich am deutlichsten, dass in dieser Erzählung der Mensch der Natur ohne Wenn und Aber unterlegen ist? Stelle 1: passenden Titel notieren Seite und Zeilen notieren Erläutern. Stelle 2: Philipp Loretz, 17.10.2022 Die Rückeroberung von Franz Hohler Interpretieren • • • • zwischen den Zeilen lesen sich mit der Thematik vertieft auseinandersetzen Zusammenhänge erkennen und beleuchten Gedanken erhellend und schlüssig erläutern Seite 13, Zeile 215 «Eine einzige Hirschkuh verirrte sich [] mit dem auslaufenden Öl zu einer rotbraunen Lache vereinigte.» ‣ Stelle dir das beschriebene Bild genau vor. Was genau wird der Leserschaft vor Augen geführt? Was sieht die «Betrachterin», der «Betrachter»? ‣ Wie wirkt dieses Bild resp. diese Situation auf dich? Welche Assoziationen weckt dieses Bild? ‣ Wofür steht dieses Bild? Was wird damit symbolisiert? Mit Hilfe dieser Gedankensammlung kannst du das Zitat nun stimmig und erhellend interpretieren. Tipp: Baue argumentative Elemente ein (z.B. Bindewörter: obwohl, folglich, ) Seite 17 unten «Am andern Morgen musste der Flughafen gesperrt werden, weil auf der Kreuzung zwischen der Start- und Landebahn ein halb aufgefressener Hirsch lag.» ‣ Der Hirsch liegt ausgerechnet auf der Kreuzung zwischen der Start- und Landepiste des Flughafens. ‣ Was könnten die Gründe für diese «Platzierung» sein? Interpretiere gekonnt. Seite 22 unten « [] während das Hotel International wie ein gewaltiger alter Baumstrunk am Horizont steht, gänzlich von Efeu umklammert, aus dem sich [] verfolgen kann.» ‣ ‣ ‣ ‣ Schlage die Bedeutung des Wortes international im Lexikon nach. Übertrage die Definition in dein Heft. Welche Assoziationen löst das Bild eines Baumstrunkes in dir aus? Das Hotel International wird in der Geschichte mit einem alten Baumstrunk verglichen. Zufall? Philipp Loretz, 17.10.2022 Franz Hohler, Rückeroberung Burier Was hat Sie zu dieser Kurzgeschichte inspiriert? F. Hohler Der Anfang, der erste Satz der Geschichte, den erzähl ich so, wie ich ihn erlebt habe. Das heisst, natürlich habe ich keinen Adler gesehen, aber ich habe einen grossen Vogel gesehen, auf dem Nachbardach. Und als er wieder wegflog, hab ich gedacht, was war das für ein Vogel? Und habe dann begonnen, mir auszumalen, was die Folgen sein könnten, wenn das ein Adler gewesen wäre. Also, es ist ein Spiel mit der Phantasie, die Phantasie kann immer dem etwas hinzufügen, was man in der Wirklichkeit sieht. Burier Versuchen Sie, in Ihren Werken Ihre Heimat, Ihr Land darzustellen? F. Hohler Ich würde nicht sagen, dass ich in erster Linie versuche, etwas über mein Land zu sagen. Aber natürlich wohne ich hier. Ich wohne in Zürich, ich bin in Olten aufgewachsen und wenn ich etwas schreibe, was sich hier abspielt, hat es immer etwas zu tun mit der Realität des Landes, auch wenn es eine absurde Phantasie ist. Ich wurde später öfters zu dieser Geschichte, «Die Rückeroberung» gefragt, ob das eine Paraphrase sei auf die Zürcher Jugendunruhen. 1980 gab es sehr starke Jugendunruhen in Zürich, und die Bilder, wie Züge von jungen Menschen durch die Stadt gingen, die glichen, die waren ein bisschen ähnlich, wie diese Hirsche, die die Stadt sabotieren, sozusagen. Und das war nicht meine Absicht, aber es war ein Bild, das offensichtlich auch so interpretiert werden konnte. Also es war ein Bild, das auf igendeine Weise die Infragestellung einer Ordnung ausdrückte. Es wird in meiner Geschichte eine Ordnung infrage gestellt, und ich nehme als Bild der Ordnung die Stadt, in der ich wohne, nämlich Zürich. Insofern beschreibe ich auch ein bisschen mein Land, aber es ist nicht meine hauptsächliche Absicht. Burier Was gefällt Ihnen in Ihrer Arbeit als Schriftsteller? F. Hohler Es gefällt mir die Freiheit, die Freiheit im Umgang mit der Realität, mit der Wirklichkeit, die ich wahrnehme. Ich kann diese Wirklichkeit verwandeln, verändern mit meiner Phantasie, ich kann Geschichten erfinden, Geschichten erzählen, die eine zweite Wirklichkeit darstellen. Und diese Freiheit im Umgang mit der Wirklichkeit, die Freiheit im Umgang mit der Sprache ist etwas, was mir gefällt. Burier Sie haben vorhin vom Anfang der Geschichte gesprochen. Ich möchte dazu wissen, ob Sie diese Geschichte völlig erfunden haben, oder ob sie auf wahre Begebenheiten, eventuell auf wissenschaftliche Statistiken beruht? F. Hohler Die Geschichte beruht überhaupt nicht auf wissenschaftlichen Fakten. Obwohl, seit diese Geschichte veröffentlicht wurde, gab es einige Veränderungen im Verhalten der Natur in der Stadt. Dort, wo ich von diesen Adlern spreche, sage ich ja, es kämen keine Raubvögel in die Stadt. Und das traf in den 70er Jahren zu, aber etwa seit fünfzehn Jahren beobachte ich wieder in der Stadt, dort wo ich wohne, Raubvögel, entweder Bussarde, Mäusebussarde oder Habichte oder Milane. Also, man hat versucht, Anfang der 70er Jahre, alle möglichen Hindernisse zu machen gegen die Tauben. Jede Stadt hat zu viele Tauben, die scheissen alles voll. Oben, über dem Portal einer Bank, ist es natürlich schlecht, wenn die Millionäre, die in der Bank ein- und ausgehen, von den Tauben vollgeschissen werden. Deshalb macht man diese kleinen Drähte, damit sich die Tauben nicht setzen können. Aber in Zürich hat man versucht, Habichte in der Stadt anzusiedeln. Der Habicht heisst auf Französisch «autour des palombes», also «der um die Tauben herumfliegt, der die Tauben jagt und frisst», und man hat sich gesagt, ja, eine Stadt mit so vielen Tauben wie Zürich muss so eine Art Mc Donalds für die Habichte sein. Es ist aber keine einziger Habicht in eines dieser Nester gekommen, das man ihnen gebaut hatte. Aber später sind sie dann selber gekommen. Heute sieht man wieder Raubvögel in der Stadt. Ein anderes Beispiel, das Sie sicher auch kennen, sind die Füchse. Es gibt heute praktisch in jeder Stadt sehr viele Füchse. In Zürich schätzte man vor kurzem, dass mindestens 600 Füchse in der Stadt leben. Ich weiss nicht, wie es in Ihrer Umgebung ist, ob es in Vevey oder Montreux Füchse gibt, in den Gärten. Die Füchse haben die Stadt zurückerobert, als Lebensraum. Insofern existieren solche Bewegungen, wie ich sie als Phantasie beschrieben habe. Vielleicht haben die Tiere meine Erzählung gelesen und haben gedacht Ach, wir können zurück in die Stadt, es ist alles vorbereitet für uns, es ist literarisch vorbereitet.» Burier Sie benützen wissenschaftliche Namen der Pflanzen. Sind Sie ein leidenschaftlicher Botaniker? F. Hohler Nein, das bin ich nicht. Aber dort, wo es mir richtig scheint, benütze ich diese Namen. Zum Beispiel «Pestwurz» oder «Eselshuf», das sind diese Planzen mit den riesigen Blättern. Die haben schon in der normalen Erscheinungsform, in der Natur, wie wir sie treffen, schon sehr grosse Blätter Da wollte ich einfach den richtigen Namen benützen. Und es kommt noch etwas hinzu: wenn ich das Unwahrscheinliche beschreibe, möchte ich es so wahrscheinlich wie möglich beschreiben, so echt wie möglich. Und deshalb benötige ich ab und zu so einen Ausdruck, damit man sich fragt «Stimmt das jetzt, ist das wahr?» Burier Wenn Sie persönlich in der Situation Ihrer Geschichte wären, würden Sie in Zürich bleiben? F. Hohler Auch das ist eine Situation; Sie spielen auf den Schluss der Erzählung an, nicht? Wo ich da sitzte und ich denke «Soll ich die Stadt verlassen, oder hat es gar keinen Sinn, die Stadt zu verlassen?» Diese Frage ist einerseits eine spezifische Frage am Ende dieser Geschichte, aber es ist auch eine sehr allgemeine Frage. Sehr viele Leute überlegen sich, ob sie in der Stadt wohnen sollen, oder nicht. Und ob sie in einer Stadt wohnen sollen, die nicht die Probleme hat, die ich beschreibe. Aber eine Stadt wie Zürich hat sehr viele Probleme. Ich höre immer wieder von Bekannten und von Freunden «Was, du wohnst in Zürich, wo all diese Drogenabhängigen sind! Dort wo du bei jedem zweiten Schritt auf eine gebrauchte Spritze trittst, steckst dich mit Aids an, und es gibt Kriminalität, und ihr habt lauter Ausländer und Asylbewerber! Das muss ja schrecklich sein in Zürich!» Diese Fragen kenne ich sehr gut und ich bin gerne in Zürich. Ich wollte dort nie weg und zwar auch deshalb, weil sich sehr viele Probleme unserer Zeit immer zuerst in den Städten zeigen. Also, wenn man an der Beobachtung der Zeit interessiert ist, dann ist die Stadt ein interessanter Ort. Burier Warum ist eine solche Geschichte so populär geworden? F. Hohler Ich glaube, weil sie unter anderem auch eine Sehnsucht ausdrückt. Wir haben ja ein gebrochenes Verhältnis zu der Natur. Und der Gedanke, die Natur könnte einfach zurückkommen und sich überall ausbreiten, wo wir sie vertrieben haben, ich glaube, das ist eine Art Sehnsucht. Wir hatten vor drei Wochen diese starken Schneefälle. Zürich wurde vollständig lahm gelegt. Ich wollte am Morgen eine Veranstaltung, eine Matineee, im Schauspielhaus besuchen und habe schnell im Teletext nachgeschaut. Und da hiess es «In Zürich verkehren keine Trams und Busse.» Und das ist ein absolut revolutionärer Satz, weil ich das noch nie gelesen habe. Und ich habe auch gemerkt, dass es auch Spass macht, dass man sich überlegen muss «Moment, wie komme ich jetzt da hin? Soll ich überhaupt gehen? Womit rüste ich mich aus? Was soll ich für Schuhe anziehen?» Die Situation, dass man plötzlich mit der Natur konfrontiert wird und plötzlich in einer Situation ist, wo die Natur einfach stärker ist. Die letzte solche Situtation, die ich erlebt habe, war der Wirbelsturm Lothar, im Jahr 2000 An den erinnern Sie sich wahrscheinlich auch noch. Da wollte ich mit meiner Familie nach Olten fahren, zu meinen Eltern, und der Bahnverkehr war zusammengebrochen. Und es gab eine Auskunftsnummer bei der SBB (CFF), wo man fragen konnte, welche Züge fahren, und da sagte man mir «Ich würde diese Reise lieber nicht machen.» Und schon das Wort «Reise» für Zürich – Olten schien mir etwas pathetisch für so eine kleine Fahrt. Und auf dem Bahnhof war das totale Chaos. Und dann kam irgendeinmal eine Durchsage, die hiess «Der Intercity nach Spreitenbach fährt auf Gleis 13.» Und das war wie ein Witz, wie eine Parodie, weil Spreitenbach, das ist kleine Stadt, das ist ein Kaff, sozusagen. Und da wusste ich, jetzt ist der Normalzustand aufgehoben. Und das Gefühl, dass der Normalzustand aufgehoben ist, hat immer auch etwas befreiendes. Anarchie, ein Zustand der Anarchie, ist erscheckend und befreiend zugleich. Und vielleicht ist die Beschreibung von diesem Zustand der Stadt Zürich, eine Beschreibung dieser Sehnsucht nach dem Erschreckenden und dem Befreienden zugleich. Burier Warum leben in der Erzählung «Die Rückeroberung» die Menschen und die Tiere nicht in Harmonie zusammen? F. Hohler Ja, wir sind es nicht gewohnt in Harmonie zu leben, mit den Tieren zusammen. Denken Sie doch, Sie haben das sicher auch mitbekommen, an den Bären, der diesen Sommer im Kanton Graubünden auftauchte. Dieses Erschrecken über einen Bären! Wie leben wir mit diesem Bären Der reisst die Schafe, der greift uns an! Aber auch dort war gleichzeitig die Faszination. Es sind hunderte von Menschen ins Engadin gefahren. Mit Feldstecher und Fotoapparat haben sie gewartet, ob sie diesen Bären irgendwo sehen. Aber zugleich hatten sie eine grosse Angst, das Gefühl, der Bär und unsere Zivilisation, die passen nicht zusammen, sie sind sich eigentlich feindlich. Dort, wo es Autos gibt und Computer, und Eisenbahnen, und Flugzeuge, dort ist irgendwie kein Platz für Bären. Deshalb habe ich auch gar keine Versöhnung gesucht. Es kommt mal in der Geschichte vor, dass ich sage «Wir mussten uns an den Gedanken gewöhnen, wieder mit Bären und Schlangen und Wölfen zusammen zu sein.» Burier Sie haben von einer anderen Wirklichkeit gesprochen, die Sie in Ihrer Geschichte darstellen wollten. Welche andere Wirklichkeit wollten Sie in dieser Geschichte darstellen? F. Hohler Ich glaube, es war diese Welt. Ich wollte eine Wirklichkeit darstellen, in der unsere Gesetze aufgehoben sind, in der unsere Gesetze nicht mehr anwendbar sind. Diese Welt wollte ich darstellen. Burier Diese Geschichte ist nicht fertig. Ich wollte wissen, wie Sie diese Geschichte weiterschreiben würden. F. Hohler Ja, das ist ein bisschen frustrierend, gell, dass die Geschichte einfach aufhört! Aber ich hatte das Gefühl, so, jetzt lassen wir das so stehen, das ist das Bild «Wie weiter? Was weiter?» Ich denke eben, es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie sie weitergehen könnte. Sie könnte zum Untergang der Stadt führen. Ich weiss nicht, ob irgendjemand von Ihnen schon mal eine dieser alten Mayastätten gesehen hat. Ich war mal in Tikal in Guatemala, eine riesige Stadt, die vollkommen überwachsen ist vom Urwald, eine Stadt, die vom Urwald zurückerobert wurde. Es ist bis heute ein Rätsel, wieso diese Stadt untergegangen ist. Aber es ist schon so, dass Kulturen auch untergehen können. Auch unsere kann untergehen. Im Moment gibt es ein interessantes Buch von einem Amerikaner namens Jared Diamond, das heisst auf Deutsch „Kollaps. Ich weiss nicht, ob das auf Französisch auch erschienen ist. Es beschreibt nur Untergänge von Kulturen und analysiert diese Untergänge, zum Beispiel die Kultur der Osterinseln, warum ist die untergegangen, und zieht Rückschlüsse auf unsere Welt. Die andere Möglichkeit ist natürlich, und jetzt kommen wir auf die Frage der Harmonie, die gestellt wurde, dass man beginnt sich einzurichten. Das wäre wohl das richtige Verhalten, sich zu überlegen, wie leben wir damit, wie können wir in einem Dschungel leben, wir, die es gewohnt sind, dass jede halbe Stunde ein Zug von Zürich nach Bern fährt. Das sind im Prinzip die zwei Möglichkeiten. Burier Wie stehen Sie zum Zeichentrickfilm, der zu dieser Erzählung gemacht wurde? F. Hohler Ich freue mich immer, wenn meine Geschichten benützt werden für ein anderes Medium, und wenn andere Leute weiterdenken. Es gibt übrigens auch eine gezeichnete Comicfassung. Ich habe immer Freude daran, also wenn die Geschichte nicht vollkommen verfälscht wird, wenn ich darin meine Geschichte noch wieder erkenne. Dann heisst es, es hat jemanden angeregt zum Weiterdenken, jemand ist diesem Gedanken gefolgt und hat etwas Neues daraus gemacht. Das gefällt mir immer, da freue ich mich. Burier Was ist die Moral dieser Geschichte, und was ist für Sie in dieser Geschichte am wichtigsten? F. Hohler Ich denke, eine gute Geschichte hat nie nur eine Moral, sondern sie zeigt verschiedene Aspekte. Und einen Aspekt, den ich zeigen wollte, war die Vision, dass die Natur mit ähnlicher Kraft auf den Menschen zurückschlägt, wie der Mensch auf die Natur einwirkt. Wir gehen mit der Natur eigentlich sehr rücksichtslos um. Wir verbauen sie. Natürlich, wir brauchen Platz. Wir sperren ganze Täler ab, mit Staumauern. Wir bauen Atomkraftwerke und nehmen in Kauf, dass wir Abfälle zurücklassen, die Hunderttausende von Jahren von der Natur ferngehalten werden sollten. Also unser Vorgehen der Natur gegenüber ist das umgekehrte Abbild dessen, was ich in meiner Geschichte zeige: nämlich die Natur kommt brutal zurück. Ich wollte ja keine Harmonie schildern, keine Idylle, sondern eigentlich eine Brutalität der Natur. Und dieser Kontrast, das war etwas, was mir wichtig war. Und wenn Sie das gern in eine Moral gekleidet hätten, dann würde ich sagen «Vorsicht! Die Natur ist stärker als ihr meint!» Burier Eine Szene der Erzählung hat mich besonders beeindruckt. Es ist die Szene, in welcher der erster Mensch stirbt. Ich habe mich gefragt, ob die Tatsache, dass es ein Ausländer ist, eine Symbolik mit sich trägt, ob sich dahinter etwas verbirgt. F. Hohler Warum war es ein Ausländerkind? Vielleicht deshalb, weil ich denke, dass diese Dinge sehr oft die Schwächeren unter uns treffen, und das sind oft die Ausländer. Es ist ein Bild dafür. Ich hoffe nicht, dass es als Rassismus interpretiert wird, sondern für das Bild dafür, dass es häufig zuerst die Ausländer trifft, wenn es Probleme gibt. Es haben übrigens kürzlich, das haben Sie auch gehört, einige Pitbullhunde in der Nähe von Zürich ein Kind getötet, und das war das Kind einer türkischen Familie. Man kann jetzt sagen, das ist ein Zufall, es ist vielleicht so ein Zufall wie in meiner Geschichte. Das heisst, es war dort ein jugoslawisches Kind. Aber als ich das las, habe ich gedacht: «Ah das kenne ich doch!» Wieso ein Türke? Man kann es nicht wirklich erklären, aber das war für mich die Symbolik. Burier Wie wählen Sie Ihre Übersetzer? Haben Sie freie Wahl? F. Hohler Ich habe nicht die Wahl, wer meine Sachen übersetzt, normalerweise. Es kommt schon vor, dass man gefragt wird, aber eigentlich wird mir meistens ein Vorschlag gemacht zur Übersetzung, schon mit der Person, die es übersetzt. Das war in diesem Fall Marion Graf, die sehr gut übersetzt. Nun kann ich ein bisschen Französisch. Ich kann das auf Französisch lesen. Hingegen, wenn ich eine russische Übersetzung bekomme, kann ich die nicht lesen. Aber zum Beispiel: Sie werden ja auch noch mit Christian Viredaz sprechen, der „Die Steinflut übersetzt hat, seine Übersetzung habe ich gelesen, bevor sie publiziert wurde. Er hat sie mir geschickt. Er hat mir auch Fragen gestellt, sprachliche Fragen über Dialektausdrücke, und dann habe ich die ganze Übersetzung gelesen und habe ihn auf einige Stellen aufmerksam gemacht, die er nicht ganz verstanden hatte. Und das geht gut, das ist möglich, wenn man die andere Sprache ein bisschen kann, nicht? Dann kann man es beurteilen, man kann auch so einen Dialog machen. Es gab auch eine englische Übersetzung der Steinflut, und da hat mich auch der Übersetzer kontaktiert und mich nach Ausdrücken gefragt. Das ist dann das Zeichen, dass es ein guter Übersetzer ist. Sobald eine Frage kommt. Weil, wer schnell übersetzt, der schummelt sich durch die Probleme, der fragt nicht den Autor, was ist da genau gemeint? Und den Mut zur Frage haben, das ist für mich ein gutes Zeichen. Dann denke ich: «Ja, der überlegt sich etwas! Guter Übersetzer!» Burier Herr Hohler, das bringt uns auf die Frage, wie Sie denn so gut Französisch gelernt haben F. Hohler Je lai appris à lécole, comme vous! Burier Und mit gutem Ergebnis! F. Hohler Ich versuche auch immer, es zu pflegen. Ich fände es schade, wenn ich keinen Kontakt hätte mit der Romandie. Ich finde es eine Bereicherung für ein Land, wenn mehrere Sprachen gesprochen werden. Ich habe mich immer für die anderen Sprachen interessiert. Es ist eine Aufforderung. Ein deutscher Philosoph, Herder, hat mal gesagt « So viele Sprachen man spricht, so viele Herzen hat man. » Burier Wenn Sie so gut Französisch können, warum haben Sie das Buch nicht selbst übersetzt F. Hohler Oh Das wäre zu viel verlangt von mir! So gut kann ich nicht Französisch. Ich kann ganz gut passiv Französisch, aber beim Übersetzen ist es wichtiger, dass man die eigene Sprache gut kann. Jemand, der auf Französisch übersetzt, der soll sehr gut Französisch können. Und dann soll er auch noch ein bisschen Deutsch können. Aber es ist wichtiger, dass er gut Französisch spricht. Ich übersetze gern aus fremden Sprachen. Ich übersetze auch aus Sprachen, die ich nicht kann. Ich übersetze gern auf Schweizerdeutsch. Und ich habe aus dem Russischen übersetzt, das ich nicht kann. Ich habe aus dem Griechischen übersetzt, das ich auch nicht kann. Ich habe aus dem Rumänischen übersetzt, das ich auch nicht kann. Aber ich höre die Melodie des Originals und dann lasse ich es mir ganz genau übersetzen, Wort für Wort, und dann mach ich meine Fassung. Interview mit Franz Hohler – 42 Jahre danach Burier: Was hat Sie zu dieser Kurzgeschichte [Rückeroberung] inspiriert? F. Hohler: Der Anfang, der erste Satz der Geschichte, den erzähl ich so, wie ich ihn erlebt habe. Das heisst, natürlich habe ich keinen Adler gesehen, aber ich habe einen grossen Vogel gesehen, auf dem Nachbardach. Und als er wieder wegflog, hab ich gedacht, was war das für ein Vogel? Und habe dann begonnen, mir auszumalen, was die Folgen sein könnten, wenn das ein Adler gewesen wäre. Also, es ist ein Spiel mit der Phantasie, die Phantasie kann immer dem etwas hinzufügen, was man in der Wirklichkeit sieht. Burier: Versuchen Sie, in Ihren Werken Ihre Heimat, Ihr Land darzustellen? F. Hohler: Ich würde nicht sagen, dass ich in erster Linie versuche, etwas über mein Land zu sagen. Aber natürlich wohne ich hier. Ich wohne in Zürich, ich bin in Olten aufgewachsen und wenn ich etwas schreibe, was sich hier abspielt, hat es immer etwas zu tun mit der Realität des Landes, auch wenn es eine absurde Phantasie ist. Ich wurde später öfters zu dieser Geschichte, «Die Rückeroberung» gefragt, ob das eine Paraphrase sei auf die Zürcher Jugendunruhen. 1980 gab es sehr starke Jugendunruhen in Zürich, und die Bilder, wie Züge von jungen Menschen durch die Stadt gingen, die glichen, die waren ein bisschen ähnlich, wie diese Hirsche, die die Stadt sabotieren, sozusagen. Und das war nicht meine Absicht, aber es war ein Bild, das offensichtlich auch so interpretiert werden konnte. Also es war ein Bild, das auf irgendeine Weise die Infragestellung einer Ordnung ausdrückte. Es wird in meiner Geschichte eine Ordnung infrage gestellt, und ich nehme als Bild der Ordnung die Stadt, in der ich wohne, nämlich Zürich. Insofern beschreibe ich auch ein bisschen mein Land, aber es ist nicht meine hauptsächliche Absicht. Burier: Was gefällt Ihnen in Ihrer Arbeit als Schriftsteller? F. Hohler: Es gefällt mir die Freiheit, die Freiheit im Umgang mit der Realität, mit der Wirklichkeit, die ich wahrnehme. Ich kann diese Wirklichkeit verwandeln, verändern mit meiner Phantasie, ich kann Geschichten erfinden, Geschichten erzählen, die eine zweite Wirklichkeit darstellen. Und diese Freiheit im Umgang mit der Wirklichkeit, die Freiheit im Umgang mit der Sprache ist etwas, was mir gefällt. Burier: Sie haben vorhin vom Anfang der Geschichte gesprochen. Ich möchte dazu wissen, ob Sie diese Ge- schichte völlig erfunden haben, oder ob sie auf wahre Begebenheiten, eventuell auf wissenschaftliche Statistiken beruht? F. Hohler: Die Geschichte beruht überhaupt nicht auf wissenschaftlichen Fakten. Obwohl, seit diese Geschichte veröffentlicht wurde, gab es einige Veränderungen im Verhalten der Natur in der Stadt. Dort, wo ich von diesen Adlern spreche, sage ich ja, es kämen keine Raubvögel in die Stadt. Und das traf in den 70er Jahren zu, aber etwa seit fünfzehn Jahren beobachte ich wieder in der Stadt, dort wo ich wohne, Raubvögel, entweder Bussarde, Mäusebussarde oder Habichte oder Milane. Also, man hat versucht, Anfang der 70er Jahre, alle möglichen Hindernisse zu machen gegen die Tauben. Jede Stadt hat zu viele Tauben, die scheissen alles voll. Oben, über dem Portal einer Bank, ist es natürlich schlecht, wenn die Millionäre, die in der Bank ein- und ausgehen, von den Tauben vollgeschissen werden. Deshalb macht man diese kleinen Drähte, damit sich die Tauben nicht setzen können. Aber in Zürich hat man versucht, Habichte in der Stadt anzusiedeln. Der Habicht heisst auf Französisch «autour des palombes», also «der um die Tauben herumfliegt, der die Tauben jagt und frisst», und man hat sich gesagt, ja, eine Stadt mit so vielen Tauben wie Zürich muss so eine Art Mc Donalds für die Habichte sein. Es ist aber keine einziger Habicht in eines dieser Nester gekommen, das man ihnen gebaut hatte. Aber später sind sie dann selber gekommen. Heute sieht man wieder Raubvögel in der Stadt. Ein anderes Beispiel, das Sie sicher auch kennen, sind die Füchse. Es gibt heute praktisch in jeder Stadt sehr viele Füchse. In Zürich schätzte man vor kurzem, dass mindestens 600 Füchse in der Stadt leben. Ich weiss nicht, wie es in Ihrer Umgebung ist, ob es in Vevey oder Montreux Füchse gibt, in den Gärten. Die Füchse haben die Stadt zurückerobert, als Lebensraum. Insofern existieren solche Bewegungen, wie ich sie als Phantasie beschrieben habe. Vielleicht haben die Tiere meine Erzählung gelesen und haben gedacht: Ach, wir können zurück in die Stadt, es ist alles vorbereitet für uns, es ist literarisch vorbereitet.» Burier: Sie benützen wissenschaftliche Namen der Pflanzen. Sind Sie ein leidenschaftlicher Botaniker? F. Hohler: Nein, das bin ich nicht. Aber dort, wo es mir richtig scheint, benütze ich diese Namen. Zum Beispiel «Pestwurz» oder «Eselshuf», das sind diese Planzen mit den riesigen Blättern. Die haben schon in der normalen Erschei- nungsform, in der Natur, wie wir sie treffen, schon sehr grosse Blätter Da wollte ich einfach den richtigen Namen benützen. Und es kommt noch etwas hinzu: wenn ich das Unwahrscheinliche beschreibe, möchte ich es so wahrscheinlich wie möglich beschreiben, so echt wie möglich. Und deshalb benötige ich ab und zu so einen Ausdruck, damit man sich fragt: «Stimmt das jetzt, ist das wahr?» Burier: Wenn Sie persönlich in der Situation Ihrer Geschichte wären, würden Sie in Zürich bleiben? F. Hohler: Auch das ist eine Situation; Sie spielen auf den Schluss der Erzählung an, nicht? Wo ich da sass und ich denke «Soll ich die Stadt verlassen, oder hat es gar keinen Sinn, die Stadt zu verlassen?» Diese Frage ist einerseits eine spezifische Frage am Ende dieser Geschichte, aber es ist auch eine sehr allgemeine Frage. Sehr viele Leute überlegen sich, ob sie in der Stadt wohnen sollen, oder nicht. Und ob sie in einer Stadt wohnen sollen, die nicht die Probleme hat, die ich beschreibe. Aber eine Stadt wie Zürich hat sehr viele Probleme. Ich höre immer wieder von Bekannten und von Freunden: «Was, du wohnst in Zürich, wo all diese Drogenabhängigen sind! Dort wo du bei jedem zweiten Schritt auf eine gebrauchte Spritze trittst, steckst dich mit Aids an, und es gibt Kriminalität, und ihr habt lauter Ausländer und Asylbewerber! Das muss ja schrecklich sein in Zürich!» Diese Fragen kenne ich sehr gut und ich bin gerne in Zürich. Ich wollte dort nie weg und zwar auch deshalb, weil sich sehr viele Probleme unserer Zeit immer zuerst in den Städten zeigen. Also, wenn man an der Beobachtung der Zeit interessiert ist, dann ist die Stadt ein interessanter Ort. Burier: Warum ist eine solche Geschichte so populär geworden? F. Hohler: Ich glaube, weil sie unter anderem auch eine Sehnsucht ausdrückt. Wir haben ja ein gebrochenes Verhältnis zu der Natur. Und der Gedanke, die Natur könnte einfach zurückkommen und sich überall ausbreiten, wo wir sie vertrieben haben, ich glaube, das ist eine Art Sehnsucht. Wir hatten vor drei Wochen diese starken Schneefälle. Zürich wurde vollständig lahm gelegt. Ich wollte am Morgen eine Veranstaltung, eine Matinée, im Schauspielhaus besuchen und habe schnell im Teletext nachgeschaut. Und da hiess es «In Zürich verkehren keine Trams und Busse.» Und das ist ein absolut revolutionärer Satz, weil ich das noch nie gelesen habe. Und ich habe auch gemerkt, dass es auch Spass macht, dass man sich überlegen muss «Moment, wie komme ich jetzt da hin? Soll ich überhaupt gehen? Womit rüste ich mich aus? Was soll ich für Schuhe anziehen?» Die Situation, dass man plötzlich mit der Natur konfrontiert wird und plötzlich in einer Situation ist, wo die Natur einfach stärker ist. Die letzte sol- che Situation, die ich erlebt habe, war der Wirbelsturm Lothar, im Jahr 2000. An den erinnern Sie sich wahrscheinlich auch noch. Da wollte ich mit meiner Familie nach Olten fahren, zu meinen Eltern, und der Bahnverkehr war zusammengebrochen. Und es gab eine Auskunftsnummer bei der SBB (CFF), wo man fragen konnte, welche Züge fahren, und da sagte man mir «Ich würde diese Reise lieber nicht machen.» Und schon das Wort «Reise» für Zürich – Olten schien mir etwas pathetisch für so eine kleine Fahrt. Und auf dem Bahnhof war das totale Chaos. Und dann kam irgendeinmal eine Durchsage, die hiess: «Der Intercity nach Spreitenbach fährt auf Gleis 13.» Und das war wie ein Witz, wie eine Parodie, weil Spreitenbach, das ist kleine Stadt, das ist ein Kaff, sozusagen. Und da wusste ich, jetzt ist der Normalzustand aufgehoben. Und das Gefühl, dass der Normalzustand aufgehoben ist, hat immer auch etwas befreiendes. Anarchie, ein Zustand der Anarchie, ist erschreckend und befreiend zugleich. Und vielleicht ist die Beschreibung von diesem Zustand der Stadt Zürich, eine Beschreibung dieser Sehnsucht nach dem Erschreckenden und dem Befreienden zugleich. Burier: Warum leben in der Erzählung «Die Rückeroberung» die Menschen und die Tiere nicht in Harmonie zusammen? F. Hohler: Ja, wir sind es nicht gewohnt in Harmonie zu leben, mit den Tieren zusammen. Denken Sie doch, Sie haben das sicher auch mitbekommen, an den Bären, der diesen Sommer im Kanton Graubünden auftauchte. Dieses Erschrecken über einen Bären! Wie leben wir mit diesem Bären? Der reisst die Schafe, der greift uns an! Aber auch dort war gleichzeitig die Faszination. Es sind hunderte von Menschen ins Engadin gefahren. Mit Feldstecher und Fotoapparat haben sie gewartet, ob sie diesen Bären irgendwo sehen. Aber zugleich hatten sie eine grosse Angst, das Gefühl, der Bär und unsere Zivilisation, die passen nicht zusammen, sie sind sich eigentlich feindlich. Dort, wo es Autos gibt und Computer, und Eisenbahnen, und Flugzeuge, dort ist irgendwie kein Platz für Bären. Deshalb habe ich auch gar keine Versöhnung gesucht. Es kommt mal in der Geschichte vor, dass ich sage: «Wir mussten uns an den Gedanken gewöhnen, wieder mit Bären und Schlangen und Wölfen zusammen zu sein.» Burier: Sie haben von einer anderen Wirklichkeit gesprochen, die Sie in Ihrer Geschichte darstellen wollten. Welche andere Wirklichkeit wollten Sie in dieser Geschichte darstellen? F. Hohler: Ich glaube, es war diese Welt. Ich wollte eine Wirklichkeit darstellen, in der unsere Gesetze aufgehoben sind, in der unsere Gesetze nicht mehr anwendbar sind. Diese Welt wollte ich darstellen. Burier: Diese Geschichte ist nicht fertig. Ich wollte wissen, wie Sie diese Geschichte weiterschreiben würden. wie der Mensch auf die Natur einwirkt. Wir gehen mit der Natur eigentlich sehr rücksichtslos um. Wir verbauen sie. F. Hohler: Ja, das ist ein bisschen frustrierend, gell, dass die Geschichte einfach aufhört! Aber ich hatte das Gefühl, so, jetzt lassen wir das so stehen, das ist das Bild: «Wie weiter? Was weiter?» Ich denke eben, es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie sie weiter-gehen könnte. Sie könnte zum Untergang der Stadt führen. Ich weiss nicht, ob irgendjemand von Ihnen schon mal eine dieser alten Mayastätten gesehen hat. Ich war mal in Tikal in Guatemala, eine riesige Stadt, die vollkommen überwachsen ist vom Urwald, eine Stadt, die vom Urwald zurückerobert wurde. Es ist bis heute ein Rätsel, wieso diese Stadt untergegangen ist. Aber es ist schon so, dass Kulturen auch untergehen können. Auch unsere kann untergehen. Im Moment gibt es ein interessantes Buch von einem Amerikaner namens Jared Diamond, das heisst auf Deutsch „Kollaps. Ich weiss nicht, ob das auf Französisch auch erschienen ist. Es beschreibt nur Untergänge von Kulturen und analysiert diese Untergänge, zum Beispiel die Kultur der Osterinseln, warum ist die untergegangen, und zieht Rückschlüsse auf unsere Welt. Die andere Möglichkeit ist natürlich, und jetzt kommen wir auf die Frage der Harmonie, die gestellt wurde, dass man beginnt sich einzurichten. Das wäre wohl das richtige Verhalten, sich zu überlegen, wie leben wir damit, wie können wir in einem Dschungel leben, wir, die es gewohnt sind, dass jede halbe Stunde ein Zug von Zürich nach Bern fährt. Das sind im Prinzip die zwei Möglichkeiten. Natürlich, wir brauchen Platz. Wir sperren ganze Täler ab, mit Staumauern. Wir bauen Atomkraftwerke und nehmen in Kauf, dass wir Abfälle zurücklassen, die Hunderttausende von Jahren von der Natur ferngehalten werden sollten. Also unser Vorgehen der Natur gegenüber ist das umgekehrte Abbild dessen, was ich in meiner Geschichte zeige: nämlich die Natur kommt brutal zurück. Ich wollte ja keine Harmonie schildern, keine Idylle, sondern eigentlich eine Brutalität der Natur. Und dieser Kontrast, das war etwas, was mir wichtig war. Und wenn Sie das gern in eine Moral gekleidet hätten, dann würde ich sagen: «Vorsicht! Die Natur ist stärker als ihr meint!» Burier: Wie stehen Sie zum Zeichentrickfilm, der zu dieser Erzählung gemacht wurde? F. Hohler: Ich freue mich immer, wenn meine Geschichten benützt werden für ein anderes Medium, und wenn andere Leute weiterdenken. Es gibt übrigens auch eine gezeichnete Comicfassung. Ich habe immer Freude daran, also wenn die Geschichte nicht vollkommen verfälscht wird, wenn ich darin meine Geschichte noch wieder erkenne. Dann heisst es, es hat jemanden angeregt zum Weiterdenken, jemand ist diesem Gedanken gefolgt und hat etwas Neues daraus gemacht. Das gefällt mir immer, da freue ich mich. Burier: Was ist die Moral dieser Geschichte, und was ist für Sie in dieser Geschichte am wichtigsten? F. Hohler: Ich denke, eine gute Geschichte hat nie nur eine Moral, sondern sie zeigt verschiedene Aspekte. Und einen Aspekt, den ich zeigen wollte, war die Vision, dass die Natur mit ähnlicher Kraft auf den Menschen zurückschlägt, Burier: Eine Szene der Erzählung hat mich besonders beeindruckt. Es ist die Szene, in welcher der erster Mensch stirbt. Ich habe mich gefragt, ob die Tatsache, dass es ein Ausländer ist, eine Symbolik mit sich trägt, ob sich dahinter etwas verbirgt. F. Hohler: Warum war es ein Ausländerkind? Vielleicht deshalb, weil ich denke, dass diese Dinge sehr oft die Schwächeren unter uns treffen, und das sind oft die Ausländer. Es ist ein Bild dafür. Ich hoffe nicht, dass es als Rassismus interpretiert wird, sondern für das Bild dafür, dass es häufig zuerst die Ausländer trifft, wenn es Probleme gibt. Es haben übrigens kürzlich, das haben Sie auch gehört, einige Pitbullhunde in der Nähe von Zürich ein Kind getötet, und das war das Kind einer türkischen Familie. Man kann jetzt sagen, das ist ein Zufall, es ist vielleicht so ein Zufall wie in meiner Geschichte. Das heisst, es war dort ein jugoslawisches Kind. Aber als ich das las, habe ich gedacht: «Ah das kenne ich doch!» Wieso ein Türke? Man kann es nicht wirklich erklären, aber das war für mich die Symbolik. [] Interview mit Franz Hohler – 42 Jahre danach 1. Inspiration Ideen Quellen Woher nimmt Hohler seine Ideen? Wie lässt er sich inspirieren? Nenne konkrete Beispiele, die er in die Geschichte eingebaut hat. Wie lässt er sich grundsätzlich inspirieren? 2. Gegensätze: Stadt versus Land positive Seiten, negative Seiten? Hohlers Einschätzung – deine Meinung? 3. Erfolg Auch 42 Jahre nach der Veröffentlichung ist Hohlers Erzählung populär. Wie erklärt sich Hohler diesen Erfolg? Formuliere in eigenen Worten. Äussere dich zu den wesentlichen Punkten! 4. Besprechung im Unterricht Welche Aspekte, die im Interview zur Sprache kommen, haben wir im Unterricht thematisiert? Inwiefern stimmten Hohlers Einschätzungen mit unseren/deinen „Erkenntnissen überein? Im Interview werden auch andere Aspekte erwähnt, die wir nicht thematisiert haben. Welche? 5. Realität und Fantasie Hohler nennt zwei Erlebnisse, die ihn an die Rückeroberung erinnern. Welche? Welche Parallelen erkennst du? 6. Moral der Geschichte, Intention (Absicht) Äussere dich zu diesen Oberbegriffen: • Faszination versus Angst • Harmonie • Versöhnung • Maya 7. Die Zukunft voraussagen Hohler behielt in einigen Punkten recht. Welche Tiere, die in seiner Erzählung zurückkommen, leben heute tatsächlich wieder in Zürich? Welches Tier, das die Behörden zur Rückeroberung „eingeladen hatten, siedelte sich über lange Zeit nicht in der Stadt an? 8. Aktualität: Die Rückeroberung und der Klimawandel Welche Parallelen zwischen Hohlers Vision und dem sich abzeichnenden Klimawandel kannst du erkennen? Philipp Loretz, 17.10.2022