Arbeitsblatt: Jugendkultur EMOs

Material-Details

Der Text aus dem Tagesanzeiger Magazin über EMOS wird in der Klasse gelesen und bearbeitet. Er dient als Grundlage für die weitere selbstständige Arbeit über Jugendbewegungen. Der Text kann auch im Internet unter Tagesanzeiger.ch runtergeladen werden.
Deutsch
Gemischte Themen
9. Schuljahr
6 Seiten

Statistik

35865
849
19
02.03.2009

Autor/in

N.H. (Spitzname)
Land: Schweiz
Registriert vor 2006

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Textauszüge aus dem Inhalt:

Perfekte Opfer Emos sind die erste Jugendkultur, die statt Coolness eigene Gefühle und Schwächen zelebriert. Das macht sie angreifbar. Die Kleine schluchzt plötzlich leise. Eben noch sassen etwa zehn Teenager friedlich auf der Wiese hinter dem Landesmuseum in Zürich, frotzelten, bemalten sich gegenseitig die Converse-Turnschuhe mit Liebesschwüren und reichten billigen Fusel herum. Jetzt hat sich eine kleine, aufgeregt tröstende Traube um das Mädchen gebildet, es wird von mindestens zehn Händen gestreichelt und fünf Mündern geküsst. Denn jemand hat einen Apfel nach ihm geworfen. Blicke bohren sich ins Dunkel, um herauszufinden, wo das Geschoss herkam, welches das stille Mädchen am Hinterkopf erwischte. «Scheiss Emos!» grölt es aus der Ecke. Und dabei ist die Kleine doch nicht mal ein Emo, sondern eine Gothic Lolita. Alle zehn Jahre ungefähr tritt eine neue Jugendkultur aufs Parkett, die Erwachsenenwelt zu verstören und sie «Wo soll das nur hinführen?» heulen zu lassen: 1957 waren es die Rocker, 1967 die Popper, 1977 kamen die Punks, und 1987 gehörte den Technos und den Hiphoppern. Die Neunziger – war da was? Ein bisschen Grunge vielleicht, ein paar gestreifte TShirts unter Holzfällerhemden, ein paar Mal weniger duschen, ein paar KurtCobain-Nachahmungs-Suizide. Keine Bewegung, kein Massenphänomen. Nun gut, die Neunziger brachten auch sonst nichts hervor. Und: Auch die Jugend darf mal Pause machen! Wird halt eine Dekade übersprungen. Dafür, hätte man erwarten können, würde uns im neuen Jahrtausend, frisch und gestärkt nach der grossen AusZeit, eine Jugendkultur präsentiert, die uns erbleichen lässt angesichts von so viel Novität und Unfassbarkeit und jungblütigem Furor. Und jetzt sind sie da: Emos. Jugendliche mit schwarzen Haaren, schwarzen Kleidern, viel Kajal und einer Interpretation von «No Future», die sie nicht wütend, sondern traurig macht. Die Erwachsenenwelt hätte vielleicht gar keine Notiz von ihnen genommen, sie wären vielleicht einfach zwischen Handypornografie, Happy Slapping und Komasaufen durchgerutscht, wenn sie nicht von anderen Jugendlichen, ihren Feinden, zum Thema gemacht worden wären: indem sie zur Jagd auf Emos bliesen. Seither: das grosse Medien-Bohei. Verprügelte Emos, gemobbte Emos, verarschte Emos machen Schlagzeilen. Der Eltern-Ratgeber versucht Frau F. zu helfen, die «einen Emo zu Hause hat». In Mexiko läuft eine regelrechte und äusserst gewalttätige Hetze, Hassvideos kursieren virulent, und ganze Internetforen beschäftigen sich damit, neue Emo-Witze zu erfinden. Ruckzuck wurden Emos zum Opfer Nummer eins für alle anderen Szenen – der Klischee-Emo ist eine Steilvorlage für Verachtung verschiedenster Couleur. Der Klischee-Emo ist ein junger Mensch, der an der Welt krankt und seine Deprimiertheit zelebriert. Im Gespräch mit Emo-Freunden, in Form von Gedichten oder Songtexten oder indem er sich selber schneidet, «ritzen» genannt – eine Form der Selbstverletzung, die meist in der Pubertät das erste Mal auftritt. Mit Messern oder Rasierklingen fügt sich der Emo nicht lebensgefährliche Wunden zu. Der Emo ist meist bisexuell und meist unglücklich verliebt. Der Emo ist gegen Gewalt. Er treibt sich oft im Internet rum, wo er tieftraurige Blogs schreibt und Fotos von sich selber hochlädt. Äusserliches Merkmal sind gefärbte, meist schwarze und mit dem Glätteisen gestreckte Haare mit einem charakteristischen Pony, der oft ein Auge verdeckt. Kajal und Make-up werden von Mädchen und Jungs gleichermassen benutzt, der Emo ist sehr eitel. Der Emo trägt am liebsten Schwarz mit einigen ausgewählten Farbtupfern, enge Jeans, Nietengürtel, Schlüsselketten, Totenkopf- und Schachbrettmuster. An den Füssen gibts nur Turnschuhe der Marke Vans oder Converse Chucks. Dazu kommen so viele Accessoires, wie man tragen kann, Armbänder, Halsketten, Buttons, Haarschmuck im HerzchenKirschen-Schleifchen-Rockabilly-Stil und, sehr eindeutig: «Snakebites», Schlangenbisse. Zwei Piercings in der Unterlippe, meist selber gestochen. Netlog ist der virtuelle Marktplatz der Emos, die Litfasssäule, die Bühne, Therapeutencouch und WG-Küche. Die Internetplattform hat rund 35 Millionen Mitglieder in Europa, mit einer deutlichen Häufung bei den 14- bis 24-Jährigen. Das Portal ist eine Mischung aus Facebook und Myspace, wo sich Mitglieder ein Profil einrichten können mit Fotoalbum, Gästebuch und Blog. Emo-Webseiten erkennt man auf den ersten Blick. Schon an den Nicknames: SoVerySad, Suicide_Sweetie, EmOtears. Nächstes Charakteristikum eines Klischee-Emos im Internet: Die Profilfotos sind allesamt von oben geschossen, das macht die Augen ausdrucksstark. Die jugendliche Darstellungslust führt zu einer eigenen Ästhetik – oft sind die Bilder am Computer bearbeitet, es werden dunkel-romantische Filter darübergelegt, in schnörkeligen Schriften pathetische Sprüche dazugeschrieben («I will love you till the end», «Min Shats, min Shnuggi – Forever in My Heart»). «Sch» wird konsequent als «sh» geschrieben, Vokale fehlen oft gleich ganz, und die wichtigsten Ausdrücke haben verbindliche Abkürzungen – «Iwie»: irgendwie, «ka»: keine Ahnung, «sry»: sorry, «vlt»: vielleicht. Die Blogs erreichen manchmal eine werthersche Intensität der Verzweiflung. Beim Lesen schwankt der erwachsene Mensch hin und her: Da ist einerseits ein nostalgisch-amüsiertes Verständnis für die jugendliche Hypertrophie von, nun ja, jedem Furz («Denkst du, ich habe nicht gemerkt, wie du sie angeschaut hast?!?» – «Bist du wegen mir nicht zur Party gekommen?!?» – «Du hast gesagt, du wärst immer für mich da und dann ‹verlierst du dein Handy›?!?!?!») und andererseits die Angst, ein junges Leben nicht gerettet zu haben, weil man nicht sofort die Psychiatrie gerufen hat: In einigen Blogs wird auf Teufel komm raus mit Selbstmordgedanken kokettiert. Liebesgedichte werden zu Drohungen, Tagebucheinträge zu Abschiedsbriefen. Jugend halt. Das alles macht den Emo zum Opfer. Gejagt wird der effeminierte Junge, die Schwuchtel. Verhauen wird der empfindsame Schwächling, der nicht zurückschlägt. Getriezt wird die Heulsuse, verlacht der introvertierte Gedichteschreiber mit der Hornbrille. Das war schon immer so. Bloss haben die bisher ihr Stigma nicht als Style vor sich hergetragen. Ein weiteres Problem kommt dazu: Der Emo-Stil ist zusammengeklaut. Die Punks wollen ihren Nietengürtel wieder, die Ska-Anhänger sehen ihre Schachbrettmuster-Devotionalien missbraucht, die Gothics waren doch bisher die Einzigen, die schlecht drauf und ganz in Schwarz waren, und die Nazis sind böse, weil diese Kids ihre engen Mädchenjeans tragen. Ach ja, und die AltHomos mussten hart kämpfen, um ihre Sexualität offen leben zu können, und da kommen jetzt diese Möchtegern-Schwulen und küssen sich einfach so. Oh, und dann ist da ja noch der Sänger von Tokio Hotel, dieses geschminkte, frisierte Singpudelchen, das ist also ein Emo, ja? DIE Lachnummer! Die Emo-Checkliste «Die Leute sind auf dieses Klischee aufgestiegen und haben keine Lust, wieder runterzukommen», murmelt Heni schulterzuckend, als wir durch den Zürcher Hauptbahnhof spazieren. Heni ist 20 und ein Emo. Zumindest sieht er so aus: schwarze, asymmetrische Frisur, enge schwarze Jeans, Buttons, Vans Slip Ons – ein grosser Teil der Emo-Checkliste kann abgehakt werden. Aber zur Sicherheit doch mal nachgefragt: Bist du denn nun ein Emo, Heni? «Es wäre zumindest sehr Emo zu behaupten, ich sei keiner.» Kurz nachdenken – aha. Was? Heni profiliert sich im Internet als Instanz in Sachen Emo. Er verfasst erklärende Beiträge, stellt FAQs zusammen und beantwortet sie, lädt Artikel und Fernsehberichte online, die mit dem Phänomen dieser Szene zu tun haben – er ist der Archivar. Der Theoretiker. Der Nerd, wie er sagt. Und kann deshalb genau festmachen, dass es seit etwa einem Jahr keine Emos mehr gebe in Zürich. «Zumindest wirst du kaum jemanden finden, der auf deine Frage mit ‹Ja› antwortet.» Was aber nicht heisse, dass der Gefragte tatsächlich kein Emo ist. «Aber niemand will mehr als Emo bezeichnet werden. Emo ist heute ein Schimpfwort.» Und ich würde auch fast niemanden sehen, der noch so richtig wie ein Emo rumlaufe, bereitet mich Heni auf die Szene hinter dem Landesmuseum vor, das jeden Samstagabend zum Museum der Jugendkulturen wird. Sie würden sich jetzt bunter kleiden oder den Look mit Schirmmützen verändern oder seien einfach schon in einer Unterszene der Emo-Szene angekommen. «Es ist ziemlich komplex, am besten du schaust einfach mal», sagt Heni. Und ich schaue. Und ich sehe: Punks, am einen Ende der grossen Treppe. Einfach zu erkennen, die sind immer noch die Gleichen, hat etwas Heimeliges. Ihnen gegenüber ein Grüppchen Faschos, programmatisch reaktionär auch sie. Am anderen Ende der Treppe und auf diversen Bänkchen Jugendliche, die einzig verbindet, dass sie jung aussehen. Ansonsten: kompletter Stilmix. Ein Skater, eine Punkerin, einer, der einfach verwahrlost aussieht. Einer mit Trinkhorn am Gürtel und natürlichem Draculagebiss. Ein Mädchen, das nicht spricht. Ein unendlich niedlicher Kleiner mit gepudertem Puppengesicht, enger Jeans, rosa Adidas-T-Shirt. Lark heisst er, und er ist ein Visu – eine von den japanischen Harajuku-Jugendlichen inspirierte Szene, welche die grenzenlose Freiheit der Kleidung propagiert. Alles ist erlaubt, Schminke für Jungs, Brautschleier, ein Hasenkostüm, egal, Kleidung ist Verkleidung ist Ausdruck. Sein Freund ist ein schwarz gemantelter ApokalypsenReiter, und sie reden mit einem hübschen, zigfach gepiercten Mädchen mit türkisen Haaren. «Die meisten von denen waren vor Kurzem noch voll Emo», sagt Heni, der seine mobilen Lautsprecher installiert. Ohne Musik geht gar nichts. Und um die Musik dreht sich eigentlich alles – vor allem bei Emos. Emos sind definitionsgemäss einfach Jugendliche, die auf Emotional Hardcore stehen, eine Form des Hardcore, in dem die Texte Gefühle behandeln, vornehmlich negative, was meist in Schreien endet, daraus ist auch «Screamo» entstanden, die eigentliche Musik von Emos, erklärt Heni und hat immer einen passenden Soundschnipsel parat. Heni ist ein ziemlich linkischer junger Mann, der sehr schüchtern wirkt, dann aber aufsteht und drei Takte lang ganz allein auf dem Platzspitz im Kies herumtanzt, sich wieder hinsetzt und einigermassen in sich zusammenfällt. Irgendwann kramt er ein kleines Bürstchen aus seiner Tasche und frisiert den Sichtschutz neu. Es macht Spass, jeden zu fragen, ob er ein Emo sei. «Was?! Scheiss-Emos!», «Ich?! Spinnsch?!», hysterisches Lachen und wegrennen und den anderen erzählen, «die da hat gerade gefragt, ob ich ein Emo bin!», alles ist dabei. «Ich bin einfach ich» ist auch eine gern genommene Antwort. «Ich bin einfach ich, ich habe meinen eigenen Style», sagt ein Mädchen, das haargenau gleich aussieht wie mindestens fünf andere Mädchen da, enge Jeans, schwarz gefärbte Haare, dicker Pony, lange Zotteln, Achtziger-Retro-T-Shirt, ausser dass es im Gegensatz zu den anderen nicht nur zwei oder drei, sondern vier Gürtel trägt, «ich trage zum Beispiel vier Gürtel, das mache nur ich, das ist MEIN STYLE», erklärt sie. «Emo-Kiddie» flüstert Lark. «Möchtegern-Scenester» flüstert Heni. Scenesters sind aus Emos entstanden, eine Szene, in der sich alles nur noch um Style dreht, um Aufmerksamkeit auf dem Internet, um Berühmtheit. Auf ihren Myspace- und Netlog-Profilen geht es vor allem darum, die Besucher zu beschimpfen und Bilder von sich selber zu zeigen. Celi, die mit den türkisen Haaren, ist im Moment die Scene-Königin, sind sich Heni und Lark einig. Perfektion ist das Ziel: Celis Aufmachung ist bis ins Detail durchorchestriert, ihre Schminke von Modeshootingqualität. Emos findet Celi das Letzte, sie kann nicht genau erklären warum, obwohl sie es wirklich versucht: Sie spuckt Gift und Galle. Ritzen ist okay Schlumpf ist da reflektierter. Er ist schon lange in der Hauptbahnhof-Familie und war vor einigen Monaten noch mehr Emo als jetzt. Aber sehr schnell kamen eben die Kiddies, die ganz Jungen, die sich bei & Emo-mässig einkleideten und dachten, sie gehörten jetzt auch dazu. Emo ist in kürzester Zeit das passiert, was jeder Jugendkultur irgendwann passiert: Sie wurde vom Kommerz aufgegriffen und zu Geld gemacht. Dadurch ist die Szene verwässert und hat sich zersetzt, der Zusammenhalt war irgendwann nicht mehr da, sagt Schlumpf. Jetzt ist er ein «Bolo», erklärt Lark: eine Mischung aus Emo, Skater und Hiphopper. Von mir aus, sagt Schlumpf. Schlumpf hat sich eine Weile geritzt. Aufgefangen haben ihn die Freunde am Hauptbahnhof, das Reden mit ihnen, das Saufen, die Partys. Ritzen, das gefährlichste Vorurteil über Emos, trete in allen Szenen auf, darüber ist man sich einig am Hauptbahnhof. Jeder kennt einige, die sich selber verletzen, vom Hiphopper bis zum Streber. Allerdings, wird beschlossen, gebe es vielleicht ein Klischee über Emos, das wahr ist: Sie reden gerne über ihre Probleme. Man muss nicht auf Teufel komm raus cool sein, es darf einem auch schlecht gehen. Und dadurch gehts einem dann irgendwann auch wieder besser. Heni hat ein Beispiel für die heilende Kraft der Emo-Kultur auf Lager, das allerdings äusserst ironisch endet: Er hat einen Bekannten in die HBFamilie eingeführt, der gamesüchtig war und ziemlich endzeitlich gestimmt. Durch die Emos entwickelte er wieder ein Sozialleben, wurde fröhlicher, passte sich auch äusserlich langsam dem Stil seiner neuen Freunde an – und wurde dann deswegen übel zusammengeschlagen. Weil man Emos eben zusammenschlägt. Seither ward er nie mehr gesehen, und man munkelt, er trage jetzt nur noch Anzüge. Spiegelsüchtig Justin, Tobi und Nico, alle 17, tauchen am Hauptbahnhof auf. Die drei sind waschechte Emos aus dem Raum Bern, die einen anderen Weg gefunden haben, mit dem Hass und den Vorurteilen umzugehen, als sich vom Stil abzuwenden: Selbstironie. «Emo!» wird schon auf den ersten Metern gerufen, als sie aus dem Zug aussteigen, Tobi winkt tuntig und macht: «Ho-oi!» «Manchmal nehmen wir uns auch an den Händen und spazieren so herum, die Leute drehen durch», kichert Justin. Seine Augen sind stark mit schwarzem Kajal geschminkt, seine Haare mit dem Glätteisen gestreckt, er mustert kritisch Tobis Pony und macht ihn auf eine Haarlücke aufmerksam. «Oh, nein!» ruft Tobi und schüttelt seine Haare in die Stirn, zupft ein paar Strähnen zurecht, «ich bin voll auf Haarlücken. Ich hasse Haarlücken. Jetzt gut?» Jetzt gut. Tobi sagt, dass er momentan nicht perfekt gestylt ist, weil er einen gebrochenen Arm hat und sich darum nicht so gut schminken und frisieren kann wie sonst. Justin überprüft sein Make-up im Handspiegelchen und murmelt: «Ich bin einfach spiegelsüchtig.» Nico schminkt sich nie, wird darum von den anderen beiden scherzhaft auch nur als «halber Emo» bezeichnet. Alle drei haben Lehrstellen, Justin im Metallbau, Tobi als Hochbauzeichner, und Nico wird Informatiker – «so viel zum Thema ‹Man kriegt keinen Job mit so einer Frisur›» grinst er. Weder die Chefs noch die Eltern haben ein Problem mit dem Stil dieser drei. Justins Mutter nutzt im letzten Jahr vor der Volljährigkeit noch ihre Macht und verbietet ihm Snakebites, aber das hat sich auch bald erledigt. Ein Raunen geht durch die HB-Familie. «Weisst du, wofür Emo steht? Extremes Mobbing Opfer!», ruft einer. «Hallo, MoRITZ!» – «Hey, schau mal, Tokio Hotel!» Die Jungen verhalten sich wie bornierte Alte. Celi, die türkise SceneQueen, die gerade mit einer Freundin (das Gleiche in Pink) ein Buch über ihr Vorbild Paris Hilton anschaut, versteift sich wie eine Katze, die einem Hund gegenübersteht, als sie die Berner erblickt. «Die wollen jetzt aber nicht hier mit uns rumhängen oder?», zischt sie. «Oh Gott, schau die mal an. Solche Möchtegerns. Scheiss-Wannabes. Oh my god.» Die Emos hingegen, gefragt, was sie von den beiden Mädchen dort drüben halten, sagen: «Sehen doch nett aus.» Hier zeigt sich der vielleicht wichtigste Punkt bei Emos: Sie haben nichts gegen andere Szenen. Solange die Leute nett sind, ist jeder willkommen bei ihnen. «Wir hängen auch mit Hiphoppern rum oder Punks oder Skatern in Bern. Ist uns doch scheissegal, wie sich jemand anzieht. Und wir haben auch kein Problem damit, wenn einer depro ist oder schwul oder uncool», sagt Tobi, und in dem Moment wird uns allen klar, woher die Klischees über Emos kommen. Die Kids ritzen sich nicht, weil sie Emos sind, sondern sie sind Emos, weil sie sich ritzen. Die Kids sind nicht bi, weil sie Emos sind, sondern sie sind Emos, weil sie bi sind. Die Kids sind nicht depressiv, weil sie Emos sind, sondern sie sind Emos, weil sie depressiv sind. «Mann, wir sind das Auffangbecken!», ruft Tobi erhellt. Plötzlich ist alles klar. Warum Emos so gehasst werden – weil es die vielleicht erste Jugendkultur ist, die anstatt Coolness und Abgeklärtheit Gefühle und Schwächen zeigt. Zelebriert gar. Unsicherheit – in Bezug auf die Zukunft, auf die sexuelle Ausrichtung, auf politische Haltung, nichts ist fix, alles muss noch herausgefunden werden. Während es jugendlichen Szenen bisher immer darum ging, sich gegen aussen hart abzugrenzen mit unmissverständlichen Codes und gegen innen Homogenität zu demonstrieren, nehmen Emos verschiedene Codes auf, verwursten sie zu einer charakteristischen Melange und lassen auch Stilfremde mitmachen. Das ist Emo. Es ist auch Emo, unendlich eitel zu sein, Angst vor der Zukunft zu haben und traurige Gedichte zu schreiben. Das ist Emo, das ist Jugend und – das ist vollkommen normal! Jugend und Schmerz gehören zusammen wie Blitz und Donner. Das Internet macht bloss sichtbar, was bis anhin unter Matratzen verborgen blieb. Würde man all die tränenbenetzten Tagebücher aus den Achtzigern jetzt ins Netz einspeisen, wäre der einzige Indikator, der diese Einträge von denen der heutigen Emos unterscheidet, die Sprache. Scheisse ist jetzt sheisse, meint aber immer noch das Gleiche. Ebenfalls nicht verändert hat sich, dass traurige Teenager nicht mit bi-ba-buntfröhlichen PucciMäntelchen und roten Bäckchen, sondern tendenziell düster rumlaufen. Drama wird für immer das Stilmittel der Jugend sein, Aufmerksamkeit die Droge, die Peergroup das Mass aller Dinge. Und genauso wie früher und wie für immer und ewig wollen alle eigentlich nur Freunde haben und sich irgendwo aufgehoben fühlen. Angegafft zu werden macht hungrig: Justin, Tobi und Nico wollen zu McDonalds. «Wir holen uns ein DepriMeal!», jubelt Justin. Die drei ziehen frotzelnd davon.