Arbeitsblatt: Knellwolf - Riss im Schnee
Material-Details
Kurzgeschichte, die im Winter in Sils Maria passiert, mit Angaben zum Autor und zum Buch. Fragen zum Inhalt
Deutsch
Textverständnis
7. Schuljahr
2 Seiten
Statistik
38290
2731
41
08.04.2009
Autor/in
Regula Püntener
Land: Schweiz
Registriert vor 2006
Textauszüge aus dem Inhalt:
Riss im Schnee 1 Ulrich Knellwolf »Wo ist mein kleines schwarzes Portemonnaie? Hast du mein kleines schwarzes Portemonnaie gesehen? « Walter hatte es nirgends gesehen, Esthers kleines schwarzes Portemonnaie. »Du brauchst doch kein Portemonnaie! Ich habe meins dabei.« 5 »Und wenn ich eigene Wege fahre?« Esthers fortwährender Freiheitsdrang. »Oder wenn wir einander verlieren? Ohne eigenes Portemonnaie kann ich nicht einmal eine Suppe essen oder einen Kaffee trinken.« Sie fand es endlich unter dem Taschentuch auf dem Nachttisch. Sie zählte das Geld. Es genügte für eine Suppe und einen Kaffee. 10 Wegen der Suche nach dem Portemonnaie verpassten sie die Luftseilbahn um neun Uhr zwanzig und konnten erst um neun Uhr vierzig nach Furtschellas hinauffahren. Die Sonne brannte schon auf die Hänge, der Schnee begann, an manchen Stellen sulzig zu werden. »Die schwarze Piste?« fragte Walter. Die schwarz markierte Piste war die schwierigste. 15 »Ich mag sie nicht, « sagte Esther. «Ich mag überhaupt keine Pisten. Komm, wir fahren durch die Waldschneise.» »Und die Lawinen?» wollte Walter fragen, doch er unterließ es. Sie liebte Variantenskifahren über alles. Esther fuhr die Waldschneise hinunter, wie immer voraus. Walter folgte, wie immer mit 20 Abstand. Sie fuhr wahrhaft himmlisch. Eine Augenweide. Mit schlankem, aufrechtem Oberkörper, während sich die Bewegung aus den Hüften mühelos auf die Bretter übertrug. Hinter ihr, als wäre sie ein Komet, wirbelte in elegantem Bogen ein Schweif aus Schnee. Tief unten glänzte das Band der zugefrorenen Seen wie Silber im Sonnenschein. 25 Walter fuhr kein bisschen schlechter als Esther. Er bewältigte die Schneise so sicher wie sie. Nur dass sich nach ihm niemand umgedreht hätte. «Die Freude ist ihr noch am Rücken anzusehen», sagten die Leute, wenn sie einmal auf der Piste fuhr. Esther wartete dort, wo die Führen aufhörten. Mit einem weichen Bogen war sie stehen 30 geblieben. Walter zog seinen Bogen etwas eckiger oberhalb des letzten Stammes. Vor ihnen lag, unberührt und wie Brillanten blitzend, ein breites Schneefeld, von dem sie wussten, dass es ein paar hundert Meter weiter unten über den Felsen endete. Sie würden sich etwas höher nach links halten müssen, zum Wald hinüber, um sich den Weg zwischen den Fähren in die Talsohle hinab zu suchen. Doch jetzt lockte zuerst das Schneefeld. 35 1 »Am liebsten führe ich geradewegs hinunter», rief Esther mit vor Freude gerötetem Gesicht. »Bis unten!» Sie zog die rosa Mütze mit dem Band aus Wollblumen in die Stirn. In diesem Augenblick sah Walter den Riss. Er öffnete sich quer durch den Hang, unmittelbar unterhalb der letzten Stamme. Walter stand diesseits, Esther jenseits. Der Riss vergrößerte sich in Sekundenschnelle zu einer Spalte, und dort, wo Esther 5 stand, begann der Hang, bereits zu rutschen. »Was ist das? Halt mich fest!» schrie Esther. Sie streckte ihm die Hand entgegen. Walter blieben nicht mehr als fünf Sekunden, um seinen Arm auszustrecken, Esthers Hand zu ergreifen und sie mit aller Kraft festzuhalten. Die fünf Sekunden waren eine Endlosigkeit, während der Walter und Walter unversöhnlich miteinander stritten. Und als sie 10 stritten, sah Walter auf der Leinwand des rutschenden Schneefelds ein Bild. Er sah sich selbst, wie er Hand in Hand mit einer fremden Frau über die zugefrorenen Seen spazierte, mit ihr zu den glänzenden Schneefeldern hinaufschaute und wie sie keinen Gedanken darauf verwandten, hinaufzusteigen und ihre Spuren hineinzuzeichnen, sondern zum Hotel zurückkehrten, in dem gut geheizten, freundlich eingerichteten Zimmer saßen, ihre Bücher 15 nahmen und bis zum Nachtessen zwei Stunden lasen. Der Streit war vorbei, die Entscheidung gefallen. Die flehende Stimme jenseits des Risses hatte verloren. Walter streckte den Arm nicht aus. Es wäre auch zu spät gewesen. Esther war schon zu weit weg von ihm. Sie hatte das Gesicht zu ihm gekehrt und schaute ihn mit aufgerissenen Augen an. Dann verschlang sie die rutschende Schneeflut. 20 »Walter!» schrie es lang gedehnt aus dem donnernd zu Tal stürzenden Schnee. Am Abend war Esther noch immer nicht gefunden. Bei einbrechender Dunkelheit musste die Suche eingestellt werden. Die Fachleute machten Walter keine Hoffnung mehr. Er hatte viel zu tun. Die nächsten Verwandten mussten benachrichtigt werden, die Familie von Esthers Bruder und die seiner Schwester, dann die besten Freunde. Die Leiter des 25 Rettungseinsatzes wollten Auskünfte haben. Direktion und Personal des Hotels waren rührend um ihn besorgt. Gegen elf Uhr abends konnte er sich endlich in sein Zimmer zurückziehen. Er schloss hinter sich ab. Überall lagen Esthers Sachen herum. Er legte ihre Kleider vom Sessel auf ihr Bett. Dann holte er die Flasche Scotch aus dem Kühlschrank. Er goss sich ein Glas voll, 30 setzte sich in den Sessel, legte die Füße auf das Tischchen, trank einen großen Schluck, nahm das Buch und schlug es dort auf, wo er am Abend vorher aufgehört hatte zu lesen. Ulrich Knellwolf, geboren am 17.8.1942 in Niederbipp BE. Er wächst in Zürich und Olten auf, besucht die Kantonsschule in Solothurn und studiert dann Evangelische Theologie an der Universität Basel, der Rheinischen FriedrichWilhelmsUniversität in Bonn und der Universität Zürich. Seit 1969 wirkt er als reformierter Pfarrer, zunächst in Urnäsch und Zollikon und schliesslich von 1984 bis 1996 an der Predigerkirche in Zürich. Danach wird er Mitarbeiter der Stiftung Diakoniewerk Neumünster Zollikerberg. Seit 1996 arbeitet er teilzeitlich bei der Stiftung Diakoniewerk Neumünster Schweizerische Pflegerinnenschule, Zollikerberg. 1990 promoviert er mit einer Arbeit über Jeremias Gotthelfs erzählende Theologie zum Dr. theol. an der Universität Zürich. Ulrich Knellwolf wird bekannt als Schriftsteller, unter anderem mit Kriminalromanen. Durch sie und weitere literarische Publikationen wird er zum gefragten Vorleser, Geschichtenerzähler, Prediger und Referenten. Er ist verheiratet. 1992 erhält er die Ehrengabe des Kanton Zürich und 2000 den Preis des Regierungsrates Kt. Solothurn für Literatur. Er lebt heute in Zollikon. Zum Buch „Tod in Sils Maria Das Waldhaus ist ein vornehmes Hotel im Schweizer Wintersportort Sils Maria im Engadin und ist Schauplatz aller Geschichten dieses Bandes. Hier treffen sich pensionierte Oberrichter, Professoren für Theologiegeschichte und inkognito reisende Krimiautorinnen, um das Reizklima zu genießen und sich an den neusten SkiLoipen zu versuchen. Doch die Idylle des Ortes täuscht eine vom Schnee verborgene Felsspalte oder ein Loch in der Eisdecke eines Sees kann dem Unvorsichtigen schnell zum Verhängnis werden. Und wer könnte hinterher noch sagen, ob dem Unglück nicht ein wenig nachgeholfen wurde . In „ dekliniert der Theologe Ulrich Knellwolf die Varianten menschlicher Verfehlungen durch. Mit an Roald Dahl gemahnender Doppelbödigkeit entwirft er in seinen Geschichten präzise Skizzen einer Gesellschaft des Wohlstands und des schönen Scheins. Für die Neuauflage wurde der Band um vier neue „üble Geschichten ergänzt. Spannende und tiefsinnige Lektüre nicht nur für Winterurlauber! Fragen zu Riss im Schnee Ulrich Knellwolf 1. Wo spielt die Geschichte? 2. Wann, in welchem Jahr ereignet sich die Geschichte? 3. Über welche Zeitspanne ereignet sich die Geschichte? 4. Wer sind die Hauptpersonen? 5. In welcher Beziehung stehen sie zueinander? 6. Was ist die schwarze Piste? Kennst du andere Pisten? 7. Wie fahren die beiden Ski 8. Wer ist Walter unversöhnlich? 9. Welchen Traum hat Walter? 10. Welchen Traum hat Esther? 11. Trägt Walter eine Schuld? Wenn ja, welche?