Arbeitsblatt: Lesetexte

Material-Details

Lesetexte Fabeln, Märchen und Sagen
Deutsch
Leseförderung / Literatur
6. Schuljahr
42 Seiten

Statistik

5941
1745
125
03.04.2007

Autor/in

Elisabeth Abbassi
Land: Schweiz
Registriert vor 2006

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Textauszüge aus dem Inhalt:

DEUTSCH 1.OS LESETEXTE 1 FABELN 1. Der Löwe und die Maus 5 10 Gerade zwischen den Tatzen eines Löwen kam eine leichtsinnige Maus aus der Erde. Der König der Tiere aber zeigte sich wahrhaft königlich und schenkte ihr das Leben. Diese Güte wurde später von der Maus belohnt so unwahrscheinlich es zunächst klingt. Eines Tages fing sich der Löwe in einem Netz, das als Falle aufgestellt war. Er brüllte schrecklich in seinem Zorn aber das Netz hielt ihn fest. Da kam die Maus herbeigelaufen und zernagte einige Maschen, sodass sich das ganze Netz auseinander zog und der Löwe frei davongehen konnte. (La Fontaine) 15 Kommentar: Originalwort: so dass, Neues Wort: auch: sodass; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Wahlweise Getrennt- oder Zusammenschreibung 2. Der Wolf und das Lamm 20 25 30 35 Der Starke hat immer Recht. Das werden wir sogleich sehen. Ein Lamm löschte seinen Durst in einem klaren Bache. Dabei wurde es von einem hungrigen Wolf überrascht. »Wie kannst du es wagen«, rief er wütend, »mir meinen Trank zu trüben? Für diese Frechheit musst du bestraft werden!« »Ach, mein Herr«, antwortete das Lamm, »seien Sie bitte nicht böse. Ich trinke ja zwanzig Schritte unterhalb von Ihnen. Daher kann ich Ihnen das Wasser gar nicht trüben.« »Du tust es aber doch!« sagte der grausame Wolf. »Und ausserdem weiss ich, dass du im vergangenen Jahre schlecht von mir geredet hast.« »Wie soll ich das wohl getan haben«, erwiderte das Lamm, »ich war da ja noch gar nicht geboren.« »Wenn du es nicht tatest, dann tat es dein Bruder!« »Ich habe aber keinen Bruder.« »Dann war es eben irgendein anderer aus deiner Familie. Ihr habt es überhaupt immer auf mich abgesehen, ihr, eure Hirten und eure Hunde. Dafür muss ich mich rächen.« 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA Kommentar: Originalwort: ausserdem, Neues Wort: außerdem; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Falsche Wortschreibung oder Regelanwendung Kommentar: Originalwort: weiss, Neues Wort: weiß; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Falsche Wortschreibung oder Regelanwendung DEUTSCH 1.OS LESETEXTE 2 Mit diesen Worten packte der Wolf das Lamm, schleppte es in den Wald und frass es einfach auf. (La Fontaine) 5 10 15 20 25 30 35 3. Der Rabe und der Fuchs Ein Rabe sass auf einem Baum und hielt im Schnabel einen Käse; den wollte er verzehren. Da kam ein Fuchs daher, der vom Geruch des Käses angelockt war. »Ah, guten Tag, Herr von Rabe!« rief der Fuchs. »Wie wunderbar Sie aussehen! Wenn Ihr Gesang ebenso schön ist wie Ihr Gefieder, dann sind Sie der Schönste von allen hier im Walde!« Das schmeichelte dem Raben, und das Herz schlug ihm vor Freude höher. Um nun auch seine schöne Stimme zu zeigen, machte er den Schnabel weit auf da fiel der Käse hinunter. Der Fuchs schnappte ihn auf und sagte: »Mein guter Mann, nun haben Sie es selbst erfahren: ein Schmeichler lebt auf Kosten dessen, der ihn anhört diese Lehre ist mit einem Käse wohl nicht zu teuer bezahlt.« Der Rabe, bestürzt und beschämt, schwor sich zu, dass man ihn so nicht wieder anführen sollte aber es war ein bisschen zu spät. (La Fontaine) Kommentar: Originalwort: Ihr, Neues Wort: ihr; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Kleinschreibung für Anredepronomen du usw. in Briefen; Achtung!; In Briefen wird Ihr (Plural) und Euch kleingeschrieben Kommentar: Originalwort: Ihr, Neues Wort: ihr; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Kleinschreibung für Anredepronomen du usw. in Briefen; Achtung!; In Briefen wird Ihr (Plural) und Euch kleingeschrieben 4. Der Fuchs und der Storch Eines Tages hatte der Fuchs den Storch zum Mittagessen eingeladen. Es gab nur eine Suppe, die der Fuchs seinem Gast auf einem Teller vorsetzte. Von dem flachen Teller aber konnte der Storch mit seinem langen Schnabel nichts aufnehmen. Der listige Fuchs indessen schlappte alles in einem Augenblick weg. Der Storch sann auf Rache. Nach einiger Zeit lud er seinerseits den Fuchs zum Essen ein. Der immer hungrige Fuchs sagte freudig zu. Gierig stellte er sich zur abgemachten Stunde ein. Lieblich stieg ihm der Duft des Bratens in die Nase. Der Storch hatte das Fleisch aber in kleine Stücke geschnitten und brachte es auf den Tisch in einem Gefäss mit langem 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA Kommentar: Originalwort: Gefäss, Neues Wort: Gefäß; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Falsche Wortschreibung oder Regelanwendung DEUTSCH 5 1.OS LESETEXTE 3 Halse und enger Öffnung. Er selbst konnte mit seinem Schnabel leicht hineinlangen. Aber die Schnauze des Fuchses passte nicht hinein. Er musste hungrig wieder abziehen. Beschämt, mit eingezogenem Schwanz und hängenden Ohren schlich er nach Hause. Wer betrügt, muss sich auf Strafe gefasst machen. (La Fontaine) 10 5. Das Schwein, die Ziege und der Hammel 15 20 25 30 35 Eine Ziege, ein Hammel und ein fettgemästetes Schwein wurden gemeinsam auf einem Karren zum Markt gefahren. Die Ziege reckte ihren Hals und schaute neugierig in die Landschaft. Der Hammel hing seinen Gedanken nach. Nur das Schwein war aufsässig und fand gar keine Freude an diesem Ausflug. Es schrie so entsetzlich, dass es sogar dem gutmütigen Hammel zu viel wurde. Warum machst du denn so einen Lärm? Man kann dabei ja keinen vernünftigen Gedanken fassen. Auch die Ziege schimpfte mit dem Schwein und meckerte: Hör endlich auf mit dem albernen Gezeter und benimm dich anständig. Schau dir die herrlichen, saftigen Wiesen an und sei dankbar dafür, dass du gefahren wirst und nicht zu Fuss gehen musst. Törichte Ziege, dummer Hammel, schnäuzte das Schwein, ihr haltet euch wohl für sehr klug und gebildet, dass ihr mir Vorschriften machen wollt. Glaubt ihr denn, dass der Bauer uns allein zu unserem Vergnügen herumkutschiert? Hättet ihr nur ein Fünkchen Verstand, dann wüsstet ihr, auf welchem Weg wir uns befinden. Bestimmt denkt die leichtsinnige Ziege, man will auf dem Markt nur ihre Milch verkaufen. Du, törichter Hammel, glaubst vielleicht, dass man es einzig auf deine Wolle abgesehen hat. Ich aber für meinen Teil weiss es ganz genau, dass man mich mit dem vielen guten Essen ausschliesslich zu dem Zweck voll 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA Kommentar: Originalwort: zuviel, Neues Wort: zu viel; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Getrenntschreibung bei so, wie, zu Adjektiv, Adverb oder Pronomen Kommentar: Originalwort: schneuzte, Neues Wort: schnäuzte; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Schreibung nach dem Stammprinzip, Einzelfälle Kommentar: Originalwort: weiss, Neues Wort: weiß; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Falsche Wortschreibung oder Regelanwendung DEUTSCH 5 10 15 20 25 30 35 1.OS LESETEXTE 4 gestopft hat, weil man mich töten und verspeisen will. Darum lasst mich um Hilfe schreien, solange ich es noch kann! Wenn du schon so verständig bist, rief die Ziege zornig, weil das Schwein sie beunruhigt und ihr die schöne Fahrt verdorben hatte, dann höre auch auf zu jammern! Du weisst, dein Unheil steht fest, was hilft also noch das Weinen und Klagen, wenn du doch nichts mehr ändern kannst? (La Fontaine) Kommentar: Originalwort: vollgestopft, Neues Wort: voll gestopft; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Getrenntschreibung bei Adjektiv/Adverb Verb 6. Der Rat der Ratten Die Mäuse in der Stadt liebten die Scheune des Bäckermeisters Semmelreich sehr, denn dort fanden sie Körner, Mehl und Zucker in Hülle und Fülle. Auch war die Backstube nicht weit von der Scheune entfernt, und die fleissigen Mäuschen hatten sich so manchen Zugang zu diesem verlockenden Raum genagt. Der Bäckermeister Semmelreich hingegen liebte seine kleinen, fressfröhliche Gäste gar nicht so sehr, denn er konnte die vielen angenagten Brote und Kuchen nicht mehr verkaufen. Um seine anhänglichen Plagegeister loszuwerden, schaffte er sich zwei Katzen an, welche den ungebetenen Eindringlingen ein elendes Leben bereiteten. Mit wahrer Leidenschaft jagten sie die kleinen Diebe. Viele von ihnen fanden den Tod, und die meisten, die sich retten konnten, verliessen schleunigst Semmelreichs Brotparadies. Einige Mäuse aber wollten das unerschöpfliche Körner- und Kuchenreich nicht kampflos aufgeben. Sie versteckten sich gut und ersannen immer wieder neue Tricks, um an die Nahrung heranzukommen. Einmal hatten freche Buben die beiden Katzen eingefangen, und die Mäuse konnten sich wieder frei bewegen. Sie erkannten die günstige Gelegenheit und nutzten die Zeit. Eine Versammlung wurde veranstaltet, auf der über die beiden grimmigen Jäger beraten werden sollte. Das älteste Mäuschen stellte sich auf seine Hinterbeine und sprach in ernstem Ton: Die beiden Katzen vermauern uns unser sonst so süsses Leben. Lasst uns gründlich überlegen, 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA Kommentar: Originalwort: fleissigen, Neues Wort: fleißigen; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Falsche Wortschreibung oder Regelanwendung Kommentar: Originalwort: süsses, Neues Wort: süßes; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Falsche Wortschreibung oder Regelanwendung DEUTSCH 5 10 15 20 25 30 35 1.OS LESETEXTE 5 wie wir uns von ihnen befreien oder wenigstens die Gefahr vermindern können. Alle Mäuse dachten angestrengt nach und zergrübelten sich ihr Mäusehirn. Sie machten vielerlei Vorschläge und verwarfen sie dann nach reiflicher Prüfung doch wieder. Lange hockten sie so beisammen. Da sprang ein junger Mäuserich auf und trompetete mit seinem Piepsstimmchen: Ich hab, ich weiss, wie wir mit diesen gemeinen Leisetretern fertig werden. Gespannt schauten alle auf. Es ist ganz einfach! Denkt an den Hund des Bäckermeisters, der ein Halsband mit Schellen trägt. Wir binden den beiden Katzen eine Glocke um den Hals, dann können sie uns nicht mehr überraschen, und wir hören immer, wann sie nahen und können uns rechtzeitig in Sicherheit bringen. Brausender Beifall brach los, und mit stürmischer Begeisterung wurde der Vorschlag angenommen. Sofort wurden zwei mutige Mäuschen in den Keller geschickt, denn man hatte dort einmal eine Schachtel entdeckt, in der der Bäckermeister Semmelreich ein altes Halsband von seinem Hund aufbewahrte. Von diesem sollten die beiden wackeren Mäuse zwei Glöckchen abnagen und herbeibringen. Ein dritter tapferer Mäuserich bot freiwillig an, aus der Backstube zwei Bänder zu besorgen. Während die drei Helden unterwegs waren, feierten die anderen Mäuse den klugen Mäuseknirps. Sie konnten ihn nicht genug loben, und bald waren sich alle darin einig, dass es nie zuvor einen so weisen Mäuserich gegeben hatte, und dass man ihn mit hohen Ehren auszeichnen müsste. Gerade hatte man beschlossen, ihm den grossen BrezelOrden zu verleihen, da hörte man ein Gebimmel, und die beiden Mäuse zerrten die Glocken herbei. Gleich darauf kam auch die dritte Maus zurück und zog einen langen Strick hinter sich her. Der genügt für beide, meinte sie und zerbiss ihn in der Mitte. Der Mäuseälteste hatte die ganze Zeit über geschwiegen und düster vor sich hingestarrt. Er hatte in seinem Leben schon so 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA Kommentar: Originalwort: weiss, Neues Wort: weiß; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Falsche Wortschreibung oder Regelanwendung Kommentar: Originalwort: dritter, Neues Wort: Dritter; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Großschreibung bei substantivierten Ordnungszahlen; Achtung!; Bitte prüfen: Wörter im substantivierten Gebrauch werden großgeschrieben, sonst klein. DEUTSCH 5 10 15 20 25 30 35 1.OS LESETEXTE 6 viele böse Erfahrungen gemacht, dass er ein misstrauischer, verschlossener Tropf geworden war. Klug ist unser kleiner Held, raunzte er, das ist nicht zu bezweifeln. Er ist der weiseste von uns allen und wird uns bestimmt jetzt noch verraten, wie er diese Warnsignale den beiden grossen Jägern um den Hals bindet. Wieso ich? prustete der kleine Wicht aufgebracht. Ich hatte bereits eine Idee. jetzt seid ihr an der Reihe. Strengt euch auch einmal an. Da erhob sich ein wildes Gezeter, und alle schrien durcheinander: Ich habe ein Glöckchen besorgt! Ich auch! Ich habe den Strick gemopst. Ich bin doch nicht lebensmüde! Ich auch nicht. Das ist zu gefährlich! Viel zuDer gefährlich! kleine Prahlhans zog sich aber verlegen in seinen Schlupfwinkel zurück. Passt auf, die Katzen! rief auf einmal einer, und die Versammlung stob auseinander. Leeres Gerede, brummte der Mäuseälteste und zog ein Mäusekind am Schwanz in sein Nest, das in der Aufregung sein Loch nicht finden konnte und einer Katze fast in die Fänge gelaufen wäre, was nützen die klügsten Worte, wenn man sie nicht in die Tat umsetzen kann. (La Fontaine) 7. Die Katze und die Ratte Eine Ratte lebte unter einer hohen, mächtigen Fichte, deren Astwerk bis auf den Boden hinunter wucherte. Ganz in der Nähe hausten eine Eule, ein Wiesel und eine Katze und machten der Ratte das Leben sauer. Obgleich die Ratte von so viel Feinden umgeben war, konnte sie sich nicht entschliessen, ihre Wohnung zu verlassen; denn die alte Fichte ernährte sie ausreichend mit ihrem Samen, der im Frühjahr auf den Boden prasselte. Auch warf der Sturm oft reife Zapfen zu ihr herab, die sich noch nicht geöffnet hatten, und die emsige Ratte schleppte diese dann hochbeglückt in ihr Nest und sammelte so reichlich Vorrat für das ganze Jahr. 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA Kommentar: Originalwort: soviel, Neues Wort: so viel; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Getrenntschreibung bei so, wie, zu Adjektiv, Adverb oder Pronomen; Achtung!; Nicht ändern bei Bedeutung von: soviel ich weiß DEUTSCH 5 10 15 20 25 30 35 1.OS LESETEXTE 7 Eines Morgens hörte die Ratte ein herzzerreissendes Miauen. Sie lächelte schadenfroh: Einem meiner Plagegeister scheint es an den Kragen zu gehen. Das Miauen wurde immer jämmerlicher, und die Ratte blinzelte neugierig aus ihrem Loch. Aber sie konnte nichts sehen. Vorsichtig tapste sie in die Richtung, aus der das Klagen kam. Da entdeckte sie die Katze, die sie schon so oft in Angst und Schrecken versetzt hatte. Sie war in eine Falle geraten. Das geschieht dir recht! rief die Ratte ihrer Feindin zu. Die Katze aber schlug ihre sanftesten Schmeicheltöne an und schnurrte: Liebe Freundin, deine Güte und Liebenswürdigkeit ist überall bekannt. Ich habe dich vor allen anderen Tieren dieser Gegend verehrt und geliebt. Jetzt, da ich dich sehe, muss ich sagen, es reut mich keinen Augenblick, dass ich dich stets behütet und beschützt habe. Nun kannst du mir dafür deinen Dank erweisen und mir aus diesem teuflischen Netz heraushelfen. Irgendein Taugenichts muss hier gestern dieses Netz ausgelegt haben. Ich dich retten? fragte die Ratte belustigt, die keineswegs von den süsslichen Worten ihrer Todfeindin beeindruckt war. Was bietest du mir denn zur Belohnung an? Meine ewige Treue und unbedingte Hilfe gegen alle deine Feinde, antwortete die Katze. Die Ratte entgegnete: Gegen alle anderen Feinde, das mag wohl sein, aber wer schützt mich vor dir? Ich schwöre es dir bei meinen scharfen Krallen, beteuerte die Katze. Die Ratte wollte spottend in ihr Loch zurückkehren, da versperrte ihr das kurzschwänzige Wiesel den Weg und funkelte sie wild an. Gleich darauf rauschte fast lautlos der Waldkauz herbei. In ihrer Bedrängnis überlegte die Ratte keinen Moment, sondern flitzte zur Katze und zerbiss eilig das Netz. Das Wiesel lief herausfordernd auf die Katze zu, um ihr die Beute abzujagen. Flugs sprang die Ratte hinter ihre neu verbündete Freundin. Doch sofort streckte der Waldkauz seine Krallen nach der Ratte aus. Da drang ein wütendes Bellen zu den Streitenden herüber. Wiesel, Waldkauz, Katze und Ratte flohen in verschiedene 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA Kommentar: Originalwort: süsslichen, Neues Wort: süßlichen; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Falsche Wortschreibung oder Regelanwendung Kommentar: Originalwort: neuverbündete, Neues Wort: neu verbündete; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Getrenntschreibung bei steigerbarem oder erweiterbarem Adjektiv Adjektiv/Partizip DEUTSCH 5 10 15 20 25 1.OS LESETEXTE 8 Richtungen. Ein Jäger war mit seinen Hunden unterwegs, um die Fallen, die er aufgestellt hatte, zu kontrollieren. Einige Tage später lugte die Ratte aus ihrem Loch, um zu erkunden, ob der Weg frei sei, da spritzte die Katze auf sie zu. Schnell fuhr die Ratte zurück. Warum fliehst du vor mir, liebe Freundin, als wäre ich dein Feind? fragte die Katze scheinheilig. Ich verdanke dir doch mein Leben und bin dein bester Freund. Komm, lass dich zum Dank für deine Hilfe küssen. Ich pfeif auf deinen Dank, du falsche Heuchlerin. Glaubst du, ich wüsste nicht, dass ich nur dem Hund mein Leben verdanke, der euch alle in die Flucht schlug? Du kannst deine Natur nicht verleugnen, auch nicht mit einem noch so heiligen Freundschaftseid, zu dem dich allein die Not gezwungen hat. Du bist und bleibst eine mörderische Katze. Und mit diesen Worten zog sich die Ratte tief in ihr Loch zurück. (La Fontaine) 8. Das Ross und der Stier Auf einem feurigen Rosse flog stolz ein dreister Knabe daher. Da rief ein wilder Stier dem Rosse zu: Schande! Von einem Knaben liess ich mich nicht regieren! Aber ich, versetzte das Ross. Denn was für Ehre könnte es mir bringen, einen Knaben abzuwerfen? (G.E. Lessing) 9. Der Rabe und der Fuchs 30 35 Ein Rabe trug ein Stück vergiftetes Fleisch, das der erzürnte Gärtner für die Katzen seines Nachbarn hingeworfen hatte, in seinen Klauen fort. Und eben wollte er es auf einer alten Eiche verzehren, als sich ein Fuchs herbeischlich und ihm zurief: Sei mir gesegnet, Vogel des Jupiter! Für wen siehst du mich an? fragte der Rabe. Für wen ich dich ansehe? erwiderte der Fuchs. Bist du nicht der rüstige Adler, der täglich von der Rechten des Zeus 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA DEUTSCH 5 10 15 1.OS LESETEXTE 9 auf diese Eiche herabkommt, mich Armen zu speisen? Warum verstellst du dich? Sehe ich denn nicht in der siegreichen Klaue die erflehte Gabe, die mir dein Gott durch dich zu schicken noch fortfährt? Der Rabe erstaunte und freute sich innig, für einen Adler gehalten zu werden. Ich muss, dachte er, den Fuchs aus diesem Irrtum nicht bringen. Grossmütig dumm liess er ihm also seinen Raub herabfallen und flog stolz davon. Der Fuchs fing das Fleisch lachend auf und frass es mit boshafter Freude. Doch bald verkehrte sich die Freude in ein schmerzhaftes Gefühl: Das Gift fing an zu wirken, und er verreckte. Möchtet ihr euch nie etwas anderes als Gift erloben, verdammte Schmeichler! (G.E. Lessing) 10. Die Gans 20 25 30 Die Federn einer Gans beschämten den neugeborenen Schnee. Stolz auf dieses blendende Geschenk der Natur glaubte sie eher zu einem Schwane als zu dem, was sie war, geboren zu sein. Sie sonderte sich von ihresgleichen ab und schwamm einsam und majestätisch auf dem Teiche herum. Bald dehnte sie ihren Hals, dessen verräterischer Kürze sie mit aller Macht abhelfen wollte; bald suchte sie ihm die prächtige Biegung zu geben, in welcher der Schwan das würdige Ansehen eines Vogels des Apollo hat. Doch vergebens; er war zu steif, und mit aller ihrer Bemühung brachte sie es nicht weiter, als dass sie eine lächerliche Gans ward, ohne ein Schwan zu werden. (G.E. Lessing) 11. Die junge Schwalbe 35 Was macht ihr da? fragte eine junge Schwalbe die geschäftigen Ameisen. Wir sammeln Vorrat für den Winter, war die Antwort. 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA DEUTSCH 5 10 1.OS LESETEXTE 10 Das ist klug, sagte die Schwalbe, das will ich auch tun. Und gleich fing sie an, eine Menge toter Spinnen und Fliegen in ihr Nest zu tragen. Aber wozu soll das? fragte endlich ihre Mutter. Wozu? Das ist Vorrat für den bösen Winter, liebe Mutter. Sammle doch auch! Die Ameisen haben mich diese Vorsicht gelehrt Lass nur die Ameisen! versetzte die Mutter. Uns Schwalben hat die Natur ein schöneres Los bereitet. Wenn der reiche Sommer sich wendet, dann ziehen wir fort von hier. (G.E. Lessing) 12. Jupiter und das Schaf 15 20 25 30 35 Ein Schafweibchen lebte in einer spärlich bewachsenen Gebirgsgegend. Es musste viel von anderen Tieren erleiden und war ständig auf der Flucht vor Feinden. Ein Adler kreiste oft über diesem Gebiet, und das Schafweibchen war gezwungen, immer wieder ihr kleines Schäfchen zu verstecken. Auch musste es acht geben, dass der Wolf es nicht entdeckte, denn dieser strolchte auf dem dicht bebuschten Nachbarhügel herum. Ausserdem war es wirklich ein Wunder, dass der Bär aus der waldigen Schlucht unter ihm es und sein Kind mit seinen riesigen Pranken noch nicht erwischt hatte. An einem Sonntag beschloss das Schaf, zum Himmelsgott zu wandern und ihn um Hilfe zu bitten. Demütig trat es vor Jupiter und schilderte ihm sein Leid. Ich sehe wohl, mein frommes Geschöpf, dass ich dich allzu schutzlos geschaffen habe, sprach der Gott freundlich, darum will ich dir auch helfen. Aber du musst selber wählen, was für eine Waffe ich dir zu deiner Verteidigung geben soll. Willst du vielleicht, dass ich dein Gebiss mit scharfen Fang- und Reisszähnen ausrüste und deine Füsse mit spitzen Krallen bewaffne? Das Schaf schauderte. O nein, gütiger Vater, ich möchte mit den wilden, mörderischen Raubtieren nichts gemein haben. Soll ich deinen Mund mit Giftwerkzeugen wappnen? Das Schaf wich bei dieser Vorstellung einen Schritt zurück. Bitte 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA Kommentar: Originalwort: Ausserdem, Neues Wort: Außerdem; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Falsche Wortschreibung oder Regelanwendung Kommentar: Originalwort: Reisszähnen, Neues Wort: Reißzähnen; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Falsche Wortschreibung oder Regelanwendung DEUTSCH 5 10 15 20 1.OS LESETEXTE 11 nicht, gnädiger Herrscher, die Giftnattern werden ja überall so sehr gehasst. Nun, was willst du dann haben? fragte Jupiter geduldig. Ich könnte Hörner auf deine Stirn pflanzen, würde dir das gefallen? Auch das bitte nicht, wehrte das Schaf schüchtern ab, mit meinem Gehörn könnte ich so streitsüchtig oder gewalttätig werden wie ein Bock. Mein liebes Schaf, belehrte Jupiter sein sanftmütiges Geschöpf, wenn du willst, dass andere dir keinen Schaden zufügen, so musst du gezwungenerweise selber schaden können. Muss ich das? seufzte das Schaf und wurde nachdenklich. Nach einer Weile sagte es: Gütiger Vater, lass mich doch lieber so sein, wie ich bin. Ich fürchte, dass ich die Waffen nicht nur zur Verteidigung gebrauchen würde, sondern dass mit der Kraft und den Waffen zugleich auch die Lust zum Angriff erwacht. Jupiter warf einen liebevollen Blick auf das Schaf, und es trabte in das Gebirge zurück. Von dieser Stunde an klagte das Schaf nie mehr über sein Schicksal. (G.E. Lessing) 13. Zeus und das Pferd 25 30 35 Vater der Tiere und Menschen, so sprach das Pferd und nahte sich dem Throne des Zeus, man will, ich sei eines der schönsten Geschöpfe, womit du die Welt geziert, und meine Eigenliebe heisst es mich glauben. Aber sollte gleichwohl nicht noch Verschiedenes an mir zu bessern sein? Und was meinst du denn, das an dir zu bessern sei? Rede, ich nehme Lehre an, sprach der gute Gott und lächelte. Vielleicht, sprach das Pferd weiter, würde ich flüchtiger sein, wenn meine Beine höher und schmächtiger wären; ein langer Schwanenhals würde mich nicht verstellen; eine breitere Brust wurde meine Stärke vermehren; und da du mich doch einmal bestimmt hast, deinen Liebling, den Menschen, zu tragen, so könnte mir ja wohl der Sattel anerschaffen sein, den mir der wohltätige Reiter auflegt. 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA Kommentar: Originalwort: verschiedenes, Neues Wort: Verschiedenes; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Großschreibung bei substantivierten Adjektiven und Partizipien, auch in festen Fügungen oder Wendungen; Achtung!; Bitte prüfen: Wörter im substantivierten Gebrauch werden großgeschrieben, sonst klein. DEUTSCH 5 10 15 1.OS LESETEXTE 12 Gut, versetzte Zeus, gedulde dich einen Augenblick! Zeus, mit ernstem Gesichte, sprach das Wort der Schöpfung. Da quoll Leben in den Staub, da verband sich organisierter Stoff; und plötzlich stand vor dem Throne das hässliche Kamel. Das Pferd sah, schauderte und zitterte vor entsetzendem Abscheu. Hier sind höhere und mächtigere Beine, sprach Zeus; hier ist ein langer Schwanenhals; hier ist eine breite Brust; hier ist der anerschaffene Sattel! Willst du, Pferd, dass ich dich so umbilden soll? Das Pferd zitterte noch. Geh, fuhr Zeus fort; dieses Mal sei belehrt, ohne bestraft zu werden. Dich deiner Vermessenheit aber dann und wann reuend zu erinnern, so daure du fort, neues Geschöpf Zeus warf einen erhaltenden Blick auf das Kamel und das Pferd erblicke dich nie, ohne zu schaudern. (G.E. Lessing) 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA DEUTSCH 1.OS LESETEXTE 13 MÄRCHEN 5 10 15 20 25 30 35 14. Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern Es war entsetzlich kalt; es schneite, und der Abend dunkelte bereits; es war der letzte Abend im Jahre, Silversterabend. In dieser Kälte und in dieser Finsternis ging auf der Strasse ein kleines armes Mädchen mit blossen Kopfe und nackten Füssen. Es hatte wohl freilich Pantoffel angehabt, als es von Hause fortging, aber was konnte das helfen! Es waren sehr grosse Pantoffeln, sie waren früher von seiner Mutter gebraucht worden, so gross waren sie, und diese hatte die Kleine verloren, als sie über die Strasse eilte, während zwei Wagen in rasender Eile vorüberjagten; der eine Pantoffel war nicht wiederaufzufinden und mit dem anderen machte sich ein Knabe aus dem Staube, welcher versprach, ihn als Wiege zu benutzen, wenn er einmal Kinder bekäme. Da ging nun das kleine Mädchen auf den nackten zierlichen Füsschen, die vor Kälte ganz rot und blau waren. In ihrer alten Schürze trug sie eine Menge Schwefelhölzer und ein Bund hielt sie in der Hand. Während des ganzen Tages hatte ihr niemand etwas abgekauft, niemand ein Almosen gereicht. Hungrig und frostig schleppte sich die arme Kleine weiter und sah schon ganz verzagt und eingeschüchtert aus. Die Schneeflocken fielen auf ihr langes blondes Haar, das schön gelockt über ihren Nacken hinabfloss, aber bei diesem Schmucke weilten ihre Gedanken wahrlich nicht. Aus allen Fenstern strahlte heller Lichterglanz und über alle Strassen verbreitete sich der Geruch von köstlichem Gänsebraten. Es war ja Silvesterabend, und dieser Gedanke erfüllte alle Sinne des kleinen Mädchens. In einem Winkel zwischen zwei Häusern, von denen das eine etwas weiter in die Strasse vorsprang als das andere, kauerte es sich nieder. Seine kleinen Beinchen hatte es unter sich gezogen, aber es fror nur noch mehr und wagte es trotzdem nicht, nach Hause zu gehen, da es noch kein Schächtelchen mit Streichhölzern verkauft, noch keinen Heller erhalten hatte. 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA Kommentar: Originalwort: Strasse, Neues Wort: Straße; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Falsche Wortschreibung oder Regelanwendung Kommentar: Originalwort: Strasse, Neues Wort: Straße; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Falsche Wortschreibung oder Regelanwendung Kommentar: Originalwort: anderen, Neues Wort: Anderen; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Zulässige Großschreibung bei Zahladjektiven eine, andere, wenig, viel; Achtung!; Bitte prüfen: Wörter im substantivierten Gebrauch werden großgeschrieben, sonst klein. Kommentar: Originalwort: Strassen, Neues Wort: Straßen; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Falsche Wortschreibung oder Regelanwendung Kommentar: Originalwort: Strasse, Neues Wort: Straße; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Falsche Wortschreibung oder Regelanwendung DEUTSCH 5 10 15 20 25 30 35 1.OS LESETEXTE 14 Es hätte gewiss vom Vater Schläge bekommen, und kalt war es zu Hause ja auch; sie hatten das blosse Dach gerade über sich, und der Wind pfiff schneidend hinein, obgleich Stroh und Lumpen in die grössten Ritzen gestopft waren. Ach, wie gut musste ein Schwefelhölzchen tun! Wenn es nur wagen dürfte, eins aus dem Schächtelchen herauszunehmen, es gegen die Wand zu streichen und die Finger daran zu wärmen! Endlich zog das Kind eins heraus. Ritsch! wie sprühte es, wie brannte es. Das Schwefelholz strahlte eine warme helle Flamme aus, wie ein kleines Licht, als es das Händchen um dasselbe hielt. Es war ein merkwürdiges Licht; es kam dem kleinen Mädchen vor, als sässe es vor einem grossen eisernen Ofen mit Messingbeschlägen und Messingverzierungen; das Feuer brannte so schön und wärmte so wohl tuend! Die Kleine streckte schon die Füsse aus, um auch diese zu wärmen da erlosch die Flamme. Der Ofen verschwand sie sass mit einem Stümpchen des ausgebrannten Schwefelholzes in der Hand da. Ein neues wurde angestrichen, es brannte, es leuchtete, und an der Stelle der Mauer, auf welche der Schein fiel, wurde sie durchsichtig wie ein Flor. Die Kleine sah gerade in die Stube hinein, wo der Tisch mit einem blendend weissen Tischtuch und feinem Porzellan gedeckt stand, und köstlich dampfte die mit Pflaumen und Äpfeln gefüllte, gebratene Gans darauf. Und was noch herrlicher war, die Gans sprang aus der Schüssel und watschelte mit Gabel und Messer im Rücken über den Fussboden hin; gerade die Richtung auf das arme Mädchen schlug sie ein. Da erlosch das Schwefelholz, und nur die dicke kalte Mauer war zu sehen. Sie zündete ein neues an. Da sass die Kleine unter dem herrlichsten Weihnachtsbaum; er war noch grösser und weit reicher ausgeputzt als der, den sie am Heiligabend bei dem reichen Kaufmann durch die Glastür gesehen hatte. Tausende von Lichtern brannten auf den grünen Zweigen, und bunte Bilder, wie die, welche in den Ladenfenstern ausgestellt werden, schauten auf sie hernieder, die Kleine streckte beide Hände nach ihnen in die Höhe da erlosch das Schwefelholz. Die vielen Weihnachtslichter stiegen höher und höher, und sie 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA Kommentar: Originalwort: wohltuend, Neues Wort: wohl tuend; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Getrenntschreibung bei Adjektiv/Adverb Verb Kommentar: Originalwort: Fussboden, Neues Wort: Fußboden; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Falsche Wortschreibung oder Regelanwendung DEUTSCH 5 10 15 20 25 30 35 1.OS LESETEXTE 15 sah jetzt erst, dass es die hellen Sterne waren. Einer von ihnen fiel herab und zog einen langen Feuerstreifen über den Himmel. »Jetzt stirbt jemand!« sagte die Kleine, denn die alte Grossmutter, die sie allein freundlich behandelt hatte, jetzt aber längst tot war, hatte gesagt: »Wenn ein Stern fällt, steigt eine Seele zu Gott empor!« Sie strich wieder ein Schwefelholz gegen die Mauer; es warf einen weiten Lichtschein ringsumher, und im Glanze desselben stand die alte Grossmutter hell beleuchtet mild und freundlich da. »Grossmutter!« rief die Kleine, »oh, nimm mich mit dir! Ich weiss, dass du verschwindest, sobald das Schwefelholz ausgeht, verschwindest, wie der warme Kachelofen, der köstliche Gänsebraten und der grosse flimmernde Weihnachtsbaum!« Schnell strich sie den ganzen Rest der Schwefelhölzer an, die sich noch im Schächtelchen befanden, sie wollte die Grossmutter festhalten; und die Schwefelhölzer verbreiteten einen solchen Glanz, dass es heller war als am lichten Tag. So schön, so gross war die Grossmutter nie gewesen; sie nahm das kleine Mädchen auf ihren Arm, und hoch schwebten sie empor in Glanz und Freude; Kälte, Hunger und Angst wichen von ihm sie war bei Gott. Aber im Winkel am Hause sass in der kalten Morgenstunde das kleine Mädchen mit roten Wangen, mit Lächeln um den Mund tot, erfroren am letzten Tage des alten Jahres. Der Morgen des neuen Jahres ging über der kleinen Leiche auf, die mit den Schwefelhölzern, wovon fast ein Schächtelchen verbrannt war, dasass. »Sie hat sich wärmen wollen!« sagte man. Niemand wusste, was sie schönes gesehen hatte, in welchem Glanze sie mit der alten Grossmutter zur Neujahrsfreude eingegangen war. (Hans Christian Andersen) Kommentar: Originalwort: weiss, Neues Wort: weiß; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Falsche Wortschreibung oder Regelanwendung 15. Der alte Sultan Es hatte ein Bauer einen treuen Hund, der Sultan hiess, der war alt geworden und hatte alle Zähne verloren, sodass er 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA Kommentar: Originalwort: so dass, Neues Wort: auch: sodass; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Wahlweise Getrennt- oder Zusammenschreibung DEUTSCH 5 10 15 20 25 30 35 1.OS LESETEXTE 16 nichts mehr fest packen konnte. Zu einer Zeit stand der Bauer mit seiner Frau vor der Haustüre und sprach: Den alten Sultan schiess ich morgen tot, der ist zu nichts mehr nütze. Die Frau, die Mitleid mit dem treuen Tiere hatte, antwortete: Da er uns so lange Jahre gedient hat und ehrlich bei uns gehalten, so könnten wir ihm wohl das Gnadenbrot geben. Ei was, sagte der Mann, du bist nicht recht gescheit; er hat keinen Zahn mehr im Maul, und kein Dieb fürchtet sich vor ihm, er kann jetzt abgehen. Hat er uns gedient, so hat er sein gutes Fressen dafür gekriegt. Der arme Hund, der nicht weit davon in der Sonne ausgestreckt lag, hatte alles mit angehört und war traurig, dass morgen sein letzter Tag sein sollte. Er hatte einen guten Freund, das war der Wolf, zu dem schlich er abends hinaus in den Wald und klagte über das Schicksal, das ihm bevorstände. Höre, Gevatter, sagte der Wolf, sei guten Mutes, ich will dir aus deiner Not helfen. Ich habe etwas ausgedacht. Morgen in aller Frühe geht dein Herr mit seiner Frau ins Heu, und sie nehmen ihr kleines Kind mit, weil niemand im Hause zurückbleibt. Sie pflegen das Kind während der Arbeit hinter die Hecke in den Schatten zu legen. Lege dich daneben, gleich als wolltest du es bewachen. Ich will dann aus dem Walde herauskommen und das Kind rauben, du musst mir eifrig nachspringen, als wolltest du mir es wieder abjagen. Ich lasse es fallen, und du bringst es den Eltern wieder zurück, die glauben dann, du hättest es gerettet, und sind viel zu dankbar, als dass sie dir ein Leid antun sollten; im Gegenteil, du kommst in völlige Gnade, und sie werden es dir an nichts mehr fehlen lassen. Der Anschlag gefiel dem Hund, und wie er ausgedacht war, so ward er auch ausgeführt. Der Vater schrie, als er den Wolf mit seinem Kinde durchs Feld laufen sah; als es aber der alte Sultan zurückbrachte, da war er froh, streichelte ihn und sagte: Dir soll kein Härchen gekrümmt werden, du sollst das Gnadenbrot essen, solange du lebst. Zu seiner Frau aber sprach er: Geh gleich heim und koche dem alten Sultan einen Weckbrei, den braucht er nicht zu beissen, und bring das Kopfkissen aus meinem Bette, das schenk ich ihm zu seinem Lager. Von nun an hatte es der alte Sultan so gut, als er sich 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA Kommentar: Originalwort: beissen, Neues Wort: beißen; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Falsche Wortschreibung oder Regelanwendung DEUTSCH 5 10 15 20 25 30 35 1.OS LESETEXTE 17 nur wünschen konnte. Bald hernach besuchte ihn der Wolf und freute sich, dass alles so wohl gelungen war. Aber, Gevatter, sagte er, du wirst doch ein Auge zudrücken, wenn ich bei Gelegenheit deinem Herrn ein fettes Schaf weghole. Es wird einem heutzutage schwer, sich durchzuschlagen. Darauf rechne nicht, antwortete der Hund, meinem Herrn bleibe ich treu, das darf ich nicht zugeben ! Der Wolf meinte, das wäre nicht im Ernste gesprochen, kam in der Nacht herangeschlichen und wollte sich das Schaf holen. Aber der Bauer, dem der treue Sultan das Vorhaben des Wolfes verraten hatte, passte ihm auf und kämmte ihm mit dem Dreschflegel garstig die Haare. Der Wolf musste ausreissen, schrie aber dem Hund zu: Wart, du schlechter Geselle, dafür sollst du büssen ! Am andern Morgen schickte der Wolf das Schwein und liess den Hund hinaus in den Wald fordern, da wollten sie ihre Sache ausmachen. Der alte Sultan konnte keinen Beistand finden als eine Katze, die nur drei Beine hatte, und als sie zusammen hinausgingen, humpelte die arme Katze daher und streckte zugleich vor Schmerz den Schwanz in die Höhe. Der Wolf und sein Beistand waren schon an Ort und Stelle, als sie aber ihren Gegner daherkommen sahen, meinten sie, er führte einen Säbel mit sich, weil sie den aufgerichteten Schwanz der Katze dafür ansahen. Und wenn das arme Tier so auf drei Beinen hüpfte, dachten sie nichts anders, als es höbe jedes Mal einen Stein auf, wollte damit auf sie werfen. Da ward ihnen beiden Angst: Das wilde Schwein verkroch sich ins Laub, und der Wolf sprang auf einen Baum. Der Hund und die Katze, als sie herankamen, wunderten sich, dass sich niemand sehen liess. Das wilde Schwein aber hatte sich im Laub nicht ganz verstecken können, sondern die Ohren ragten noch heraus. Während die Katze sich bedächtig umschaute, zwinste das Schwein mit den Ohren; die Katze, welche meinte, es regte sich da eine Maus, sprang darauf zu und biss herzhaft hinein. Da erhob sich das Schwein mit grossem Geschrei, lief fort und rief: Dort auf dem Baum, da sitzt der Schuldige. Der Hund und die Katze schauten hinauf und erblickten den Wolf, der schämte 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA Kommentar: Originalwort: jedesmal, Neues Wort: jedes Mal; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Getrenntschreibung bei Bestandteil mit Beugungsendung -mal Kommentar: Originalwort: angst, Neues Wort: Angst; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Einzelfälle zur obligatorischen Groß/Kleinschreibung DEUTSCH 1.OS LESETEXTE 18 sich, dass er sich so furchtsam gezeigt hatte, und nahm von dem Hund den Frieden an. (Gebrüder Grimm) 5 16. Der Schweinehirt 10 15 20 25 30 35 Es war einmal ein armer Prinz; er hatte nur ein ganz kleines Königreich; aber es war immer gross genug, um sich darauf zu verheiraten, und verheiraten wollte er sich. Nun war es freilich etwas keck von ihm, dass er zur Tochter des Kaisers zu sagen wagte: Willst du mich haben? Aber er wagte es doch, denn sein Name war weit und breit berühmt; es gab hundert Prinzessinnen, die gerne ja gesagt hätten; aber ob sie es tat? Nun, wir wollen hören. Auf dem Grabe des Vaters des Prinzen wuchs ein Rosenstrauch, ein herrlicher Rosenstrauch; der blühte nur jedes fünfte Jahr und trug dann auch nur die einzige Blume; aber das war eine Rose, die duftete so süss, dass man alle seine Sorgen und seinen Kummer vergass, wenn man daran roch. Der Prinz hatte auch eine Nachtigall, die konnte singen, als ob alle schönen Melodien in ihrer Kehle sässen. Diese Rose und die Nachtigall sollte die Prinzessin haben, und deshalb wurden sie beide in grosse silberne Behälter gesetzt und ihr zugesandt. Der Kaiser liess sie vor sich her in den grossen Saal tragen, wo die Prinzessin war und mit ihren Hofdamen Es kommt Besuch spielte. Als sie die grossen Behälter mit den Geschenken erblickte, klatschte sie vor Freude in die Hände. Wenn es doch eine kleine Miezekatze wäre! sagte sie, aber da kam der Rosenstrauch mit der herrlichen Rose hervor. Wie niedlich sie gemacht ist! sagten alle Hofdamen. Sie ist mehr als niedlich, sagte der Kaiser, sie ist schön! Aber die Prinzessin befühlte sie, und da war sie nahe daran, zu weinen. Pfui, Papa! sagte sie, sie ist nicht künstlich, sie ist natürlich! Pfui, sagten alle Hofdamen, sie ist natürlich! 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA Kommentar: Originalwort: ja, Neues Wort: auch: Ja; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Einzelfälle zur obligatorischen Groß/Kleinschreibung Kommentar: Originalwort: süss, Neues Wort: süß; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Falsche Wortschreibung oder Regelanwendung DEUTSCH 5 10 15 20 25 30 35 1.OS LESETEXTE 19 Lasst uns nun erst sehen, was in dem andern Behälter ist, ehe wir böse werden! meinte der Kaiser, und da kam die Nachtigall heraus, die so schön sang, dass man nicht gleich etwas Böses gegen sie vorbringen konnte. Superbe! Charmant! sagten die Hofdamen; denn sie plauderten alle französisch, eine immer ärger als die andere. Wie der Vogel mich an die Spieldose der seligen Kaiserin erinnert! sagte ein alter Kavalier; ach ja, das ist derselbe Ton, derselbe Vortrag! Ja! sagte der Kaiser, und dann weinte er wie ein kleines Kind. Es wird doch hoffentlich kein natürlicher sein? sagte die Prinzessin. Ja, es ist ein natürlicher Vogel! sagten die Boten, die ihn gebracht hatten. So lasst den Vogel fliegen, sagte die Prinzessin, und sie wollte nicht gestatten, dass der Prinz käme. Aber dieser liess sich nicht einschüchtern. Er bemalte sich das Antlitz mit Braun und Schwarz, drückte die Mütze tief über den Kopf und klopfte an. Guten Tag, Kaiser! sagte er. Könnte ich nicht hier auf dem Schlosse einen Dienst bekommen? Jawohl! sagte der Kaiser. Ich brauche jemand, der die Schweine hüten kann, denn deren haben wir viele. So wurde der Prinz angestellt als kaiserlicher Schweinehirt. Er bekam eine jämmerlich kleine Kammer unten bei den Schweinen, und da musste er bleiben; aber den ganzen Tag sass er und arbeitete, und als es Abend war, hatte er einen niedlichen, kleinen Topf gemacht. Rings um ihn waren Schellen, und sobald der Topf kochte, klingelten sie und spielten die schöne Melodie: Ach, du lieber Augustin, Alles ist hin, hin, hin! Aber das Allerkünstlichste war, dass, wenn man den Finger in den Dampf des Topfes hielt, man sogleich riechen konnte, welche Speisen auf jedem Feuerherd in der Stadt zubereitet wurden. Das war wahrlich etwas ganz anderes als die Rose! Nun kam die Prinzessin mit allen ihren Hofdamen daherspaziert, und als sie die Melodie hörte, blieb sie stehen 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA Kommentar: Originalwort: Charmant, Neues Wort: auch: Scharmant; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Fremdwortschreibung: sonstige Einzelfälle DEUTSCH 5 10 15 20 25 30 35 1.OS LESETEXTE 20 und sah ganz erfreut aus, denn sie konnte auch Ach, du lieber Augustin spielen. Das war das Einzige, was sie konnte, aber das spielte sie mit einem Finger. Das ist ja das, was ich kann! sagte sie. Dann muss es ein gebildeter Schweinehirt sein! Höre, gehe hinunter und frage ihn, was das Instrument kostet! Da musste eine der Hofdamen hineingehen. Aber sie zog Holzpantoffeln an. Was willst du für den Topf haben? fragte die Hofdame. Zehn Küsse von der Prinzessin! sagte der Schweinehirt. Gott bewahre uns! sagte die Hofdame. Ja, anders tue ich es nicht! anwortete der Schweinehirt. Er ist unartig! sagte die Prinzessin, und dann ging sie; aber als sie ein kleines Stück gegangen war, erklangen die Schellen so lieblich: Ach, du lieber Augustin, Alles ist hin, hin, hin! Höre, sagte die Prinzessin, frage ihn, ob er zehn Küsse von meinen Hofdamen will! Ich danke schön, sagte der Schweinehirt; zehn Küsse von der Prinzessin, oder ich behalte meinen Topf. Was ist das doch für eine langweilige Geschichte! sagte die Prinzessin. Aber dann müsst ihr vor mir stehen, damit es niemand sieht! Die Hofdamen stellten sich davor und breiteten ihre Kleider aus, und da bekam der Schweinehirt zehn Küsse, und sie erhielt den Topf. Nun, das war eine Freude! Den ganzen Abend und den ganzen Tag musste der Topf kochen; es gab nicht einen Feuerherd in der ganzen Stadt, von dem sie nicht wussten, was darauf gekocht wurde, sowohl beim Kammerherrn wie beim Schuhflicker. Die Hofdamen tanzten und klatschten in die Hände. Wir wissen, wer süsse Suppe und Eierkuchen essen wird, wir wissen, wer Grütze und Braten bekommt! Wie schön ist doch das! Ja, aber haltet reinen Mund, denn ich bin des Kaisers Tochter! Jawohl, jawohl! sagten alle. 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA Kommentar: Originalwort: einzige, Neues Wort: Einzige; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Großschreibung bei substantivierten Adjektiven und Partizipien, auch in festen Fügungen oder Wendungen; Achtung!; Bitte prüfen: Wörter im substantivierten Gebrauch werden großgeschrieben, sonst klein. Kommentar: Originalwort: süsse, Neues Wort: süße; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Falsche Wortschreibung oder Regelanwendung DEUTSCH 5 10 15 20 25 30 35 1.OS LESETEXTE 21 Der Schweinehirt, das heisst der Prinz aber sie wussten es ja nicht anders, als dass er ein wirklicher Schweinehirt sei -, liess die Tage nicht verstreichen, ohne etwas zu tun, und da machte er eine Knarre. Wenn man diese herumschwang, erklangen alle die Walzer und Hopser, die man von Erschaffung der Welt an kannte. ,Ach, das ist superbe, sagte die Prinzessin, indem sie vorbeiging. Ich habe nie eine schönere Musik gehört! Höre, gehe hinein und frage ihn, was das Instrument kostet, aber ich küsse nicht wieder! Er will hundert Küsse von der Prinzessin haben! sagte die Hofdame, die hineingegangen war, um zu fragen. Ich glaube, er ist verrückt! sagte die Prinzessin, und dann ging sie; aber als sie ein kleines Stück gegangen war, blieb sie stehen. Man muss die Kunst aufmuntern, sagte sie; ich bin des Kaisers Tochter! Sage ihm, er soll wie neulich zehn Küsse haben; den Rest kann er von meinen Hofdamen nehmen! Ach, aber wir tun es ungern! sagten die Hofdamen. Das ist Geschwätz, sagte die Prinzessin, wenn ich ihn küssen kann, dann könnt ihr es auch; bedenkt, ich gebe euch Kost und Lohn! Da mussten die Hofdamen wieder zu ihm hineingehen. Hundert Küsse von der Prinzessin, sagte er, oder jeder behält das Seine! Stellt euch davor! sagte sie dann, und da stellten sich alle Hofdamen davor, und nun küsste er. Was mag das wohl für ein Auflauf beim Schweinestall sein? fragte der Kaiser, der auf den Balkon hinausgetreten war. Er rieb sich die Augen und setzte die Brille auf. Das sind ja die Hofdamen, die da ihr Wesen treiben; ich werde wohl zu ihnen hinuntergehen müssen! Potztausend, wie er sich sputete! Sobald er in den Hof hinunterkam, ging er ganz leise, und die Hofdamen hatten so viel damit zu tun, die Küsse zu zählen, damit es ehrlich zugehen möge, dass sie den Kaiser gar nicht bemerkten. Er erhob sich hoch auf den Zehen. Was ist das? sagte er, als er sah, dass sie sich küssten; und dann schlug er seine Tochter mit einem Pantoffel auf den Kopf, 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA Kommentar: Originalwort: Seine, Neues Wort: auch: seine; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Groß- oder Kleinschreibung bei bestimmtem Artikel Possessivpronomen DEUTSCH 5 10 15 20 25 30 35 1.OS LESETEXTE 22 gerade als der Schweinehirt den sechsundachtzigsten Kuss erhielt. Fort mit euch! sagte der Kaiser, denn er war böse, und sowohl die Prinzessin wie der Schweinehirt mussten sein Kaiserreich verlassen. Da stand sie nun und weinte, der Schweinehirt schalt, und der Regen strömte hernieder. Ach, ich elendes Geschöpf, sagte die Prinzessin, hätte ich doch den schönen Prinzen genommen! Ach, wie unglücklich bin ich! Der Schweinehirt aber ging hinter einen Baum, wischte sich das Schwarze und Braune aus seinem Antlitz, warf die schlechten Kleider von sich und trat nun in seiner Prinzentracht hervor, so schön, dass die Prinzessin sich verneigen musste. Ich bin dahin gekommen, dich zu verachten! sagte er. Du wolltest keinen ehrlichen Prinzen haben! Du verstandest dich nicht auf die Rose und die Nachtigall, aber den Schweinehirten konntest du für eine Spielerei küssen. Das hast du nun dafür! Und dann ging er in sein Königreich hinein; da konnte sie draussen ihr Lied singen: Ach, du lieber Augustin, Alles ist hin, hin, hin! (Hans Christian Andersen) 17. Jorinde und Joringel Es war einmal ein altes Schloss mitten in einem grossen dicken Wald, darinnen wohnte eine alte Frau ganz allein, das war eine Erzzauberin. Am Tage machte sie sich zur Katze oder zur Nachteule, des Abends aber wurde sie wieder ordentlich wie ein Mensch gestaltet. Sie konnte das Wild und die Vögel herbeilocken, und dann schlachtete sie, kochte und briet es. Wenn jemand auf hundert Schritte dem Schloss nahe kam, so musste er stille stehen und konnte sich nicht von der Stelle bewegen, bis sie ihn lossprach; wenn aber eine keusche Jungfrau in diesen Kreis kam, so verwandelte sie dieselbe in einen Vogel und sperrte sie dann in einen Korb ein und trug 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA Kommentar: Originalwort: draussen, Neues Wort: draußen; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Falsche Wortschreibung oder Regelanwendung DEUTSCH 5 10 15 20 25 30 35 1.OS LESETEXTE 23 den Korb in eine Kammer des Schlosses. Sie hatte wohl siebentausend solcher Körbe mit so raren Vögeln im Schlosse. Nun war einmal eine Jungfrau, die hiess Jorinde; sie war schöner als alle andere Mädchen. Die und dann ein gar schöner Jüngling namens Joringel hatten sich zusammen versprochen. Sie waren in den Brauttagen, und sie hatten ihr grösstes Vergnügen eins am andern. Damit sie nun einsmalen vertraut zusammen reden könnten, gingen sie in den Wald spazieren. »Hüte dich«, sagte Joringel, »dass du nicht so nahe ans Schloss kommst.« Es war ein schöner Abend, die Sonne schien zwischen den Stämmen der Bäume hell ins dunkle Grün des Waldes, und die Turteltaube sang kläglich auf den alten Maibuchen. Jorinde weinte zuweilen, setzte sich hin im Sonnenschein und klagte: Joringel klagte auch. Sie waren so bestürzt, als wenn sie hätten sterben sollen; sie sahen sich um, waren irre und wussten nicht, wohin sie nach Hause gehen sollten. Noch halb stand die Sonne über dem Berg, und halb war sie unter. Joringel sah durchs Gebüsch und sah die alte Mauer des Schlosses nah bei sich; er erschrak und wurde todbang. Jorinde »Meinsang: Vöglein mit dem Ringlein rot singt Leide, Leide, Leide: es singt dem Täubelein seinen Tod, singt Leide, Lei zicküth, zicküth, zicküth. « Joringel sah nach Jorinde. Jorinde war in eine Nachtigall verwandelt, die sang zicküth, zicküth. Eine Nachteule mit glühenden Augen flog dreimal um sie herum und schrie dreimal schu, hu, hu, hu. Joringel konnte sich nicht regen. er stand da wie ein Stein, konnte nicht weinen, nicht reden, nicht Hand noch Fuss regen. Nun war die Sonne unter; die Eule flog in einen Strauch, und gleich darauf kam eine alte krumme Frau aus diesem hervor, gelb und mager: grosse rote Augen, krumme Nase, die mit der Spitze ans Kinn reichte. Sie murmelte, fing die Nachtigall und trug sie auf der Hand fort. Joringel konnte nichts sagen, nicht von der Stelle kommen; die Nachtigall war fort. Endlich kam das Weib wieder und sagte mit dumpfer Stimme: »Grüss dich, Zachiel, wenn Möndel ins Körbel scheint, bind lose Zachiel, zu guter Stund.« Da wurde Joringel los. Er fiel vor dem Weib auf die Knie und bat, sie 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA DEUTSCH 5 10 15 20 25 30 35 1.OS LESETEXTE 24 möchte ihm seine Jorinde wiedergeben, aber sie sagte, er sollte sie nie wiederhaben, und ging fort. Er rief, er weinte, er jammerte, aber alles umsonst. »Uu, was soll mir geschehen?« Joringel ging fort und kam endlich in ein fremdes Dorf; da hütete er die Schafe lange Zeit. Oft ging er rund um das Schloss herum, aber nicht zu nahe dabei. Endlich träumte er einmal des Nachts, er fände eine blutrote Blume, in deren Mitte eine schöne grosse Perle war. Die Blume brach er ab, ging damit zum Schlosse: alles, was er mit der Blume berührte, ward von der Zauberei frei; auch träumte er, er hätte seine Jorinde dadurch wiederbekommen. Des Morgens, als er erwachte, fing er an, durch Berg und Tal zu suchen, ob er eine solche Blume fände; er suchte bis an den neunten Tag, da fand er die blutrote Blume am Morgen früh. In der Mitte war ein grosser Tautropfe, so gross wie die schönste Perle. Diese Blume trug er Tag und Nacht bis zum Schloss. Wie er auf hundert Schritt nahe bis zum Schloss kam, da ward er nicht fest, sondern ging fort bis ans Tor. Joringel freute sich hoch, berührte die Pforte mit der Blume, und sie sprang auf. Er ging hinein, durch den Hof, horchte, wo er die vielen Vögel vernähme; endlich hörte er. Er ging und fand den Saal, darauf war die Zauberin und fütterte die Vögel in den siebentausend Körben. Wie sie den Joringel sah, ward sie bös, sehr bös, schalt, spie Gift und Galle gegen ihn aus, aber sie konnte auf zwei Schritte nicht an ihn kommen. Er kehrte sich nicht an sie und ging, besah die Körbe mit den Vögeln; da waren aber viele hundert Nachtigallen, wie sollte er nun seine Jorinde wieder finden? indem er so zusah, [merkte er,] dass die Alte heimlich ein Körbchen mit einem Vogel wegnahm und damit nach der Türe ging. Flugs sprang er hinzu, berührte das Körbchen mit der Blume und auch das alte Weibnun konnte sie nichts mehr zaubern, und Jorinde stand da, hatte ihn um den Hals gefasst, so schön, wie sie ehemals war. Da machte er auch alle die andern Vögel wieder zu Jungfrauen, und da ging er mit seiner Jorinde nach Hause, und sie lebten lange vergnügt zusammen. (Gebrüder Grimm) 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA Kommentar: Originalwort: wiederfinden, Neues Wort: wieder finden; weitere Möglichkeiten: keine; angewandte Regeln: Getrenntschreibung bei Adjektiv/Adverb Verb DEUTSCH 1.OS 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA LESETEXTE 25 DEUTSCH 1.OS LESETEXTE 26 SAGEN 18. Sisyphos 5 10 15 20 25 30 35 So mild und hilfsbereit Götter auch den leidenden Menschen zur Seite treten, hart und unnachsichtig trifft die rächende Strafe jeden, der ihnen die Stirn zu bieten wagt. Für seinen Trotz musste Sisyphos büssen, der Erbauer der herrlichen Stadt Korinth. Er hielt sich für den listigsten der Sterblichen und scheute sich deshalb nicht, des Göttervaters Zorn auf sich zu ziehen. Als Zeus die liebliche Nymphe Aigina entführte, verriet Sisyphos ihn aus schnödem Eigennutz dem Vater der Geraubten, dem Flussgott Asopos, der ihm dafür aber versprechen musste, in der Felsenburg der Stadt Korinth eine Quelle entstehen zu lassen. In seinem Unwillen zögerte Zeus nicht, den Verwegenen zu bestrafen. Thanatos, der Tod, erhielt den Auftrag, den Korintherkönig in den Hades zu führen. Sisyphos wusste jedoch den ungebetenen Sendboten des Göttervaters zu überlisten und legte ihn in Fesseln, so dass niemand auf Erden mehr sterben konnte, bis Ares kam. Er befreite den Todesgott, der den fürwitzigen König nun ins Reich der Schatten führte. Indessen wusste Sisyphos mit neuer List seiner Haft im Totenreich zu entgehen. Ehe er in die Unterwelt hinabstieg, hatte er der Gattin streng untersagt, seiner abgeschiedenen Seele die Totenopfer darzubringen. Daher liessen sich Hades und Persephone schliesslich bereden, ihn noch einmal zu beurlauben, um auf diese Weise die säumige Gattin an ihre Pflicht zu mahnen. Der arglistige Sisyphos dachte aber nicht daran, in die Unterwelt zurückzukehren, und lebte wieder wie vorher unbekümmert und in Freuden. Doch Zeus Geduld war nun endgültig erschöpft. Wiederum sandte er den Thanatos, und diesmal half dem König keine noch so klug erdachte List. Während er beim üppigen Mahle 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA DEUTSCH 5 1.OS LESETEXTE 27 sass, kam der Tod, und unerbittlich wurde Sisyphos in die Unterwelt geschleppt. Dort traf ihn die Strafe. Einen schweren Marmorstein musste er mit grosser Kraftanstrengung einen Hügel hinaufwälzen. Sobald er glaubte, das Ziel erreicht zu haben, entglitt der tückische Stein seinen Händen und rollte den Hang hinunter in die Tiefe. Immer wieder musste Sisyphos unter unsäglichen Mühen ans Werk gehen, doch immer wieder blieb ihm der Erfolg versagt. 10 19. Die Gründung Roms 15 20 25 30 35 Die beiden Brüder Romulus und Remus beschlossen, an der Stelle, wo sie ausgesetzt und vom heiligen Tiber vor dem Tode bewahrt worden waren, eine Stadt zu gründen. Romulus spannte zwei weisse Rinder vor seinen Pflug und führte sie im Viereck um den Palatin herum. Das aufgeworfene Erdreich und die Furche sollten Wall und Graben kennzeichnen, und an den Stellen, wo dereinst die Tore stehen sollten, hob Romulus seinen Pflug auf und trug ihn. Doch wer sollte der neuen Stadt den Namen geben, und wer sollte König sein? Beide Brüder erhoben Anspruch darauf; aber da sie Zwillinge waren, konnte keiner von beiden das Recht der Erstgeburt geltend machen. „Ihr müsst nach der Weisung der Götter handeln und ihren Willen durch den Vogelflug erkunden, antwortete Numitor, als die Brüder ihn um Rat fragten. Da folgten sie den Worten des Grossvaters und einigten sich. Wem die Schicksalsvögel zuerst ein glückliches Zeichen geben würden, der sollte König sein. Lange warteten die beiden, Romulus auf dem Berge Palatin und Remus auf dem Aventin, auf die göttliche Weisung. Endlich zeigten sich Remus sechs Geier, die den Berg umkreisten. „Heil unserem König Remus! riefen seine Begleiter voller Freude, und sogleich eilten sie zu seinem Bruder, um ihm die Kunde zu bringen, dass Remus der Erwählte sei. Doch bei ihrer Ankunft auf dem Palatin erschienen zwölf Geier, die unter Blitz und Donner vorüberflogen. 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA DEUTSCH 5 10 15 1.OS LESETEXTE 28 „Mir steht die Königswürde zu! erklärte nun Romulus selbstbewusst; „denn mir ist die doppelte Zahl der göttlichen Vögel erschienen, dazu unter besonderem Himmelszeichen! Remus achtete des Bruders Einwände gering, und schliesslich scheute er sich nicht, ihn zu verspotten. Er sprang über die niedrige Mauer der neuen Stadt, um zu beweisen, wie wertlos sie sei. Das Sinnbild des Geborgenseins zu verhöhnen erschien Romulus als ein so ungeheurer Frevel, dass er auf der Stelle das Gericht vollzog und den Bruder mit dem Schwerte tötete. „So möge es jedem ergehen, rief er aus, „der diese Mauer zu übersteigen wagt! Romulus wurde König der jungen Stadt. Nach seinem eigenen Namen nannte er sie Rom. Um den Schatten des Toten zu versöhnen, liess er einen zweiten Thron neben seinem eigenen aufstellen, gleichsam als teile er die Herrschaft mit dem erschlagenen Remus. 20. Robin Hood 20 25 30 35 Wer von der Höhe der Zinnen von Nottingham, der festen Stadt, herabblickt, erkennt in der Ferne einen dunkel grünen Waldstreifen. Das ist der Sherwood, der sich weit durch das englische Land zieht. Dort lebte zur Zeit des Königs Richard, den alles Volk wegen seines hochgemuten, tapferen Wesens „Löwenherz nannte, als Waldvogt Herr Hugh Fitzooth von Locksley. Er war ein Nachfahre der angelsächsischen Geschlechter, die einst mit ihren Drachenschiffen zur britischen Insel gestossen waren und dort seither als Freisassen gelebt hatten. Als dann vor drei Menschenaltern die Normannen unter Wilhelm dem Eroberer das Inselreich in ihre Gewalt gebracht hatten, waren die angestammten Sachsen gezwungen, sich der Befehlsgewalt der Normannen zu beugen, aber deren Herrschaft war verständnisvoll und milde gewesen, solange Richard Löwenherz sie ausübte. Er war gerecht und grossherzig, und darum liebten ihn auch die Sachsen. Keiner der königlichen Statthalter, der Grafen und Barone, missbrauchte seine Gewalt, denn sie sahen sich von dem 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA DEUTSCH 5 10 15 20 25 30 35 1.OS LESETEXTE 29 rechtlich denkenden König Richard überwacht. Das wussten die Sachsen dem Normannenkönig zu danken, und besonders hatte er ihre Zuneigung gewonnen, seit er ihnen die alten Rechte vor allem das Jagdrecht wiedergegeben hatte. Doch nun war König Richard ausser Landes, er machte einen Kreuzzug in das Heilige Land, um das Grab des Erlösers vor dem Zugriff der „Ungläubigen zu schützen. Als Stellvertreter hatte er seinen Bruder, den Prinzen Johann, eingesetzt und ihm die Regentschaft übertragen. Der Prinz das Volk nannte ihn verächtlich ,Johann-ohneLand\ war ein schlechter Sachwalter des Willens seines königlichen Bruders. In seinem Hass gegen die heimatstolzen Sachsen, die sich nicht der Fremdherrschaft beugen wollten, schrak Johann nicht davor zurück, ihnen angestammte Rechte zu versagen. Leichtfertig setzte er sich darüber hinweg, dass König Richard ihnen das altüberlieferte Recht zu jagen ausdrücklich zugestanden hatte, und er verbot ihnen die Jagd; der hartherzige Prinz wusste genau, dass ein Sachse ohne sie nicht leben kann. Seit Johanns neue Gesetze galten, hatte Hugh von Locksley sein Amt als königlicher Waldvogt verloren. Er musste sich darüber im Klaren sein, dass die Vögte des Prinzen Johann jede Übertretung des Verbots mit unnachsichtiger Härte ahnden würden, denn der Prinz hatte ihnen eingeschärft, notfalls jeden Trotz mit Gewalt zu brechen. In bitterer Unzufriedenheit hauste der sächsische Edeling mit Frau und Kind, seinem Sohn Robert, den sie Robin nannten, in seiner festen Burg am Rande des riesigen Waldes. Der Sherwood war seine Welt, von den Vorfahren ererbt, und er war von Jugend auf gewohnt, hier zu jagen nun war ihm durch Prinz Johanns ungerechtes Verbot alles Lebensglück zerstört. Wie König Richard seinen Grafen und Baranen milde und gerechte Verwaltung befahl und diese überwachte, so betrieb Prinz Johann mit aller Strenge die Durchführung seiner neuen Befehle. In der festen Stadt Nottingham hatte er als seinen Vogt den Grafen de Lacy eingesetzt, einen grimmigen, hartherzigen Mann, der wie sein Herr die Sachsen hasste. Er misstraute dem Gehorsam des Waldvogts von Locksley, und heimlich liess er 20070403-224410Lesetexte_1._OS_Fabeln,_Märchen,_Sagen[1].DOC Juli 2004 EA DEUTSCH 5 10 15 20 25 30 35 1.OS LESETEXTE 30 Herrn Hugh Fitzooth überwachen er hoffte, man werde ihn bei einer gesetzeswidrigen Handlung überraschen und dann strenger Strafe zuführen können. Die Mutter wollte, dass der Sohn Geistlicher würde, doch für den standesstolzen Edeling gab es keine Frage, dass Robin im Walde lebte wie er. „Jäger will ich werden wie der Vater\, sagte auch Robin selbstbewusst, „und unserm König Richard, wenngleich er Normanne ist, will ich dienen, denn er ist ein guter König, und ich will mit ihm hinausziehen und grosse Taten vollbringen.\ Der Vater wusste, was ein sächsischer Edeling an Waffenkunst beherrschen muss. Von ihm lernte Robin die Kunst, mit dem Wolfsspiess zu werfen, vom Vater lernte er die Kunst des Bogenschiessens, in der Herr Hugh Fitzooth Meister war, und der Vater nahm ihn in harte Lehre, um ihn im Stockfechten zu unterweisen. Später sollte an die Stelle des schweren Eichenknüppels das Sachsenschwert treten. Harte Tage, harte Wochen waren es für Robin, so hart, dass mancher Jüngling vielleicht den Wunsch der Mutter erwägen würde, Bücher zu lesen, um Geistlicher zu werden. Nicht so Robin. Wenn er abends mit lahmen Gliedern und zerschundenen Knochen auf sein Lager sank, dann dachte er nicht zurück, sondern nur vorwärts: Wie hätte ich dem Schlag besser ausweichen können, wie treffe ich des Vaters Stock härter, um ihm die Waffe aus der Hand zu schlagen. Bald war Robin Hood, erst sechzehn Jahre alt, unübertrefflich im Stockfechten, im Werfen mit dem Wolfsspiess, im Bogenschiessen. Graf de Lacy, der Sheriff des Landes, hatte in seiner Stadt Nottingham ein Wettschiessen mit dem Bogen angesagt. Nur widerwillig war Herr Hugh der Aufforderung gefolgt. Robin be