Arbeitsblatt: werheid
Material-Details
werheid
Deutsch
Gespräche
klassenübergreifend
4 Seiten
Statistik
67383
805
0
16.09.2010
Autor/in
romina Gregorini
Land: Schweiz
Registriert vor 2006
Textauszüge aus dem Inhalt:
Katja Werheid: Implizites Sequenzlernen bei Morbus Parkinson. Leipzig: Max Planck Institute of Cognitive Neuroscience, 2001 (MPI Series in Cognitive Neuroscience; 20) Implizites Sequenzlernen bei Morbus Parkinson Die Deutsche Bibliothek CIP-Einheitsaufnahme Werheid, Katja Implizites Sequenzlernen bei Morbus Parkinson Katja Werheid. Leipzig: MPI of Cognitive Neuroscience 2001 (MPI series in cognitive neuroscience 20) ISBN 3-9807282-9-3 Druck: Sachsisches Digitaldruck Zentrum, Dresden 2001, Katja Werheid Implizites Sequenzlernen bei Morbus Parkinson Von der Fakultat fur Biowissenschaften, Pharmazie und Psychologie der Universitat Leipzig genehmigte DISSERTATION zur Erlangung des akademischen Grades doctor rerum naturalium Dr. rer. nat. vorgelegt von Dipl.-Psych. Katja Werheid geboren am 8. September 1969 in Bergisch Gladbach Dekan: Prof. Dr. Martin Schlegel Gutachter: Prof. Dr. Erich Schroger Prof. Dr. D. Yves von Cramon Dr. habil. Michael Zießler Tag der Verteidigung: Leipzig, den 5. Juli 2001 Danksagung Die vorliegende Arbeit liegt im Grenzgebiet von klinischer Neuropsychologie, Kognitionspsychologie und funktioneller Neuroanatomie. Diese Interdisziplinaritat bedeutet eine große Bereicherung fur die Bearbeitung neuropsychologischer Fragestellungen, erfordert allerdings auch Kompromisse. Mein Dank gilt allen, die sich darauf eingelassen haben: den Patienten, die sich uber die neuropsychologische Standarddiagnostik hinaus bereiterklarten, an den Experimenten teilzunehmen; Dr. Michael Zießler, der als experimentalpsychologischer Kooperationspartner Verstandnis fur die Besonderheiten einer klinischen Studie aufbrachte und vor allem dem Leiter des Projektes Kognitive Storungen bei Morbus Parkinson, Prof. von Cramon, der mit großem Engagement Erfahrungen, Ideen und materielle Ressourcen zur Verfugung stellte. Daruber hinaus danke ich den folgenden arztlichen Kooperationspartern fur die Vermittlung des Kontakts zu den Parkinsonpatienten und die sorgfaltige neurologische Differentialdiagnostik: Dr. Mike Reuter (Diakoniekrankenhaus Zschadraß); Dr. Wieland Herrmann (Universitatsklinik Leipzig, Direktor: Prof. Wagner); Dr. Michael Joebges (Neurologisches Rehabilitationszentrum Bennewitz, Direktor: Prof. Hummelsheim); Dr. Martina Mungersdorf und Dr. Antje Muller (Neurologische Ambulanz der Universitatsklinik Dresden, Direktor: Prof. Reichmann) Viele Kollegen standen mir in den verschiedenen Entstehungsphasen dieser Arbeit hilfreich zur Seite. Unter ihnen seien besonders Maria Bley, Grit Hein, Christian Hoppe, Iring Koch, Ulrich Muller und Stefan Zysset erwahnt. Auch den studentischen Hilfskraften Laura Busse, Gundula Janicke, Tina Jentzsch und Franziska Korb sei gedankt. Den Mitarbeitern der Grafikabteilung und Thomas Arnold sei Dank fur ihre Hilfe bei der Erstellung der Abbildungen. Anke Pitzmaus scheute keine Muhen bei der Vermittlung von Kontrollpersonen aus der Datenbank, und die Assistentinnen der MRT-Abteilung unterstutzten die dortigen Messungen mit ebensoviel Professionalitat wie Herzlichkeit. Schließlich gilt mein Dank meiner Familie und ganz besonders Burt Klapproth. Durch ihre bestandige und liebevolle Unterstutzung ist diese Arbeit nicht nur begonnen, sondern auch abgeschlossen worden. Inhaltsverzeichnis Theoretischer Teil 1 1 Einleitung 3 2 Implizites Sequenzlernen 7 2.1 Begriffe und Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.2 Sequenzlernaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.3 Subprozesse des impliziten Sequenzlernens . . . . . . . . . . . 11 2.3.1 Perzeptuelles, motorisches und raumliches Lernen . . . . . . . 11 2.3.2 Handlungseffektlernen . . . . . . . . . . . . . . 14 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.4 3 Klinische Neuropsychologie des prozeduralen Lernens 19 3.1 Das dichotome Gedachtnismodell von Squire . . . . . . . . . . 19 3.2 Entwurf einer Taxonomie prozeduraler Lernaufgaben . . . . . . . . 21 3.3 Klinische Studien zum prozeduralen Lernen . . . . . . . . . . . 24 3.3.1 Amnesie bei mediotemporalen und diencephalen Lasionen . . . . . 24 3.3.2 Chorea Huntington . . . . . . . . . . . . . . . 24 3.3.3 Morbus Parkinson . . . . . . . . . . . . . . . 26 3.4 Sequenzlernen bei Parkinsonpatienten . . . . . . . . . . . . 29 3.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 4 Funktionelle Neuroanatomie des Sequenzlernens 35 4.1 Grundlagen der funktionellen Magnetresonanztomografie . . . . . . . 35 4.2 Veranderung des BOLD-Effekts im Alter . . . . . . . . . . . 41 4.3 Neuroanatomische Korrelate des Sequenzlernens . . . . . . . . . 43 4.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 5 Fragestellungen der Arbeit 47 INHALTSVERZEICHNIS VI II Empirischer Teil 49 6 Experiment 1: Subprozesse des impliziten Sequenzlernens 51 6.1 Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 6.2 Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 6.3 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 6.4 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 7 Experiment 2: Implizites Sequenzlernen bei Parkinsonpatienten 7.1 7.2 Experiment 2a: Differenzierung von Subprozessen . . . . . . . . . 7.1.1 Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 7.1.2 Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 7.1.3 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 7.1.4 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Experiment 2b: Das Erlernen raumlicher Sequenzen . . . . . . . . . 71 7.2.1 Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 7.2.2 Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 7.2.3 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 7.2.4 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 8 Experiment 3: FMRT-Studie zur Ausfuhrung implizit erlernter Sequenzen 8.1 8.2 63 63 Experiment 3a: Vorstudie zu behavioralen Lerneffekten . . . . . . . . 81 81 8.1.1 Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 8.1.2 Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 8.1.3 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 8.1.4 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Experiment 3b: fMRT-Patientenstudie . . . . . . . . . . . . 91 8.2.1 Fragestellung und Hypothesen . . . . . . . . . . . . 91 8.2.2 Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 8.2.3 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 8.2.4 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 9 Allgemeine Diskussion 105 Literaturverzeichnis 114 Anhang: Patienteninformation und Fragebogen 134 Wissenschaftlicher Werdegang der Verfasserin 134 Teil Theoretischer Teil Kapitel 1 Einleitung Mind is better construed in terms of what it can do than in terms of descriptions of what it knows. OLERS UND ROEDIGER (1984), S.440 Die Fahigkeit, regelhafte Abfolgen von Ereignissen oder Handlungen zu verarbeiten, ist fur den Menschen von fundamentaler Bedeutung. Viele menschliche Fertigkeiten, wie Sprechen und Zuhoren, Schreiben und Handwerken, erfordern das Erlernen von Ereignisfolgen sowie das Gruppieren einzelner Bewegungen in neue Abfolgen. Wie eine melodische Phrase beim Klavierspiel ist hierbei das Ganze mehr als die Summe einzelner Fingerbewegungen oder Tone erst durch ihre spezifische Abfolge erhalten die Elemente ihre Unverwechselbarkeit und Bedeutung. Die bemerkenswerte Fahigkeit des Menschen zum Erlernen regelhafter Abfolgen wirft die Frage auf, auf welche Weise Ereignisoder Handlungssequenzen erlernt werden. Bereits seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts ist bekannt, daß das Erlernen von Abfolgen, denen eine regelhafte Struktur zugrundeliegt, zuweilen unbewußt, also implizit, erfolgen kann (Reber, 1967, 1993). Zur Untersuchung dieses Phanomens wurde in der Folgezeit eine Reihe experimenteller Paradigmen entwickelt. Implizites Lernen ist auch die Thematik der vorliegenden Arbeit, in der Serielle Reaktionszeitaufgaben (engl. Serial Reaction Time tasks, SRTs) verwendet werden. Sie wurden 1987 erstmals von Nissen und Bullemer eingesetzt und stellen mittlerweile eines der Standardparadigmen zur Erforschung impliziten Lernens dar. SRTs dienen als vereinfachtes Modell der Sequenzverarbeitung und -produktion: Versuchspersonen bearbeiten serielle visuelle Stimuli, indem sie so rasch wie moglich zugeordnete Tasten betatigen. Folgt die Abfolge der Stimuli einer regelhaften Struktur, so beschleunigen sich die Reaktionen. Beim Ubergang auf eine zufallige Sequenz steigen die Reaktionszeiten wieder an. Gegenuber anderen, eher introspektiven Verfahren zur Messung impliziten Lernens bieten SRTs den Vorteil, daß individuelle Lerneffekte anhand der Reaktionszeiten im Verlauf der Aufgabe quantifiziert werden konnen. Dies ermoglicht die Gegenuberstellung von Lerneffekten unterschiedli3 KAPITEL 1 4 cher Große und Dynamik, z.B. beim Vergleich von Patienten1 und Kontrollpersonen. Nach der ersten Veroffentlichung des Paradigmas beschaftigte sich eine große Zahl von Forschungsarbeiten mit der Frage, inwieweit Sequenzlernen wirklich implizit ist und mit welchen Methoden sich dies prufen laßt (fur eine Ubersicht s. Shanks Johnstone, 1998). Die vorliegende Arbeit hat nicht die Bewußtheit des Lernens zum Gegenstand, sondern den Lernprozeß selbst. Was wird gelernt in Sequenzlernaufgaben? Bisherige Forschungsarbeiten untersuchten mehrheitlich die Frage, ob Abfolgen von Ereignissen oder Abfolgen von Handlungen erlernt werden. Dagegen erscheint die Hypothese, daß Verknupfungen von Handlungen und darauffolgenden Ereignissen gelernt werden (vgl. Hoffmann, 1993), zunachst einmal ungewohnlich. Wenn wir allerdings von der Alltagsbeobachtung ausgehen, daß lernende Individuen die Fortfuhrung einer Handlung vor allem von deren Effekten abhangig machen, gewinnt diese Hypothese an Plausibilitat. Sie konnte von Zießler (1994, 1998) in mehreren Experimenten bestatigt werden, unter anderem auch in einem Sequenzlernexperiment (Zießler Nattkemper, in press). In der vorliegenden Arbeit wurden Parkinsonpatienten mit Sequenzlernenaufgaben untersucht. Die Verwendung von SRTs fur klinische Fragestellungen ist nicht neu. Bereits die erste Veroffentlichung der Aufgabe in der genannten Studie von Nissen und Bullemer (1987) umfaßte die Untersuchung neurologischer Patienten. Hierbei wurden Patienten mit Amnesie infolge eines Korsakoffsyndroms untersucht. Die Autoren konnten zeigen, daß Korsakoffpatienten die Sequenz in vergleichbarem Ausmaß lernten wie gesunde Vergleichspersonen, obwohl sie sich der Regelmaßigkeit nicht bewußt waren. Dieses Ergebnis konnte mit amnestischen Patienten unterschiedlicher Atiologie im folgenden vielfach bestatigt werden. Dies galt als Hinweis darauf, daß explizites und implizites Lernen zwei separaten Gedachtnissystemen zuzuordnen sind (Squire, 1987). Zur Validierung dieser These wurde der methodische Konigsweg der Neuropsychologie beschritten: die doppelte Dissoziation. Den genannten Befunden bei amnestischen Patienten sollten Patienten mit Funktionsstorungen des Striatums2 wie z.B. Morbus Parkinson gegenubergestellt werden, die bei intaktem explizitem Gedachtnis in Sequenzlernaufgaben schlechter abschnitten. Der Nachweis einer doppelten Dissoziation wurde nicht nur die Dichotomie der Gedachtnissysteme untermauern, sondern auch Aussagen uber ihre Lokalisation ermoglichen. Das Unterfangen erwies sich allerdings als problematisch, da in Studien mit Parkinsonpatienten zunehmend widerspruchliche Ergebnisse berichtet wurden. Aus grundlagenwissenschaftlicher Perspektive stellt dies die zentrale Rolle des Striatums beim impliziten Lernen infrage. Ist eine intakte Funktion des Striatums essentiell fur erfolgreiches Sequenzlernen? Oder sind dabei andere Hirnregionen maßgeblich beteiligt? Aus klinischer Perspektive stellt sich die Frage nach den 1 Zur einfacheren Lesbarkeit und Ubersichtlichkeit wird in dieser Arbeit in der Regel auf die Nennung beider Geschlech- ter verzichtet und die mannliche Bezeichnung stellvertretend fur mannliche und weibliche Personen verwendet. 2 Mit dem Begriff Striatum (dt. Streifenkorper) werden die Basalganglienformationen Nucleus Caudatus und Putamen zusammengefaßt. Sie sind durch dunne, facherartig angeordnete Nervenstrange miteinander verbunden, die sich in der Seitenansicht als Streifenmuster darstellen. EINLEITUNG 5 Ursachen der gefundenen Leistungsdefizite bei Parkinsonpatienten neu. Sind moglicherweise einzelne Teilprozesse des Sequenzlernens beeintrachtigt? Unter welchen Bedingungen treten bei Morbus Parkinson Sequenzlerndefizite auf? Die klinische Neuropsychologie kann bei der Erforschung dieser Fragestellungen auf die Erfahrungen und Methoden der Experimentalpsychologie sowie der funktionellen Neuroanatomie zuruckgreifen. Experimentalpsychologische Studien zielen ab auf die kognitiven Prozesse, die beim impliziten Sequenzlernen beteiligt sind. Zu ihrer Untersuchung stehen hochdifferenzierte behaviorale Methoden bereit. Hauptanliegen der funktionellen Neuroanatomie ist es herauszufinden, welche cerebralen Regionen und Netzwerke an diesen Prozessen beteiligt sind. Hierzu steht das faszinierende neue Inventar bildgebender Verfahren zur Verfugung. Mit der funktionellen Magnetresonanztomographie lassen sich Veranderungen im Sauerstoffgehalt des cerebralen Blutflusses messen, die mit kognitiven Prozessen einhergehen. Weniger als ein Jahrzehnt nach ihrer erstmaligen Verwendung ist die funktionelle Magnetresonanztomographie durch intensive Forschungstatigkeit so weit entwickelt, daß sie auch zur Untersuchung klinischer Fragestellungen verwendet werden kann. Fuhrt man jedoch eine systematische Literaturrecherche durch, so wird deutlich, daß 97% aller bisherigen bildgebenden Studien mit jungen Studenten durchgefuhrt wurden (Literaturdatenbank Medline, Januar 2001). Uber die spezifischen Merkmale des fMRTSignals im Alter oder bei neurologischen Erkrankungen ist bislang wenig bekannt. In der vorliegenden Arbeit wird daher mit einer fMRT-Untersuchung alterer Probanden und Parkinsonpatienten methodisch wie inhaltlich Neuland beschritten. Der theoretische Teil der Arbeit umfaßt den beteiligten Fachgebieten entsprechend drei Kapitel zu bisherigen empirischen Befunden. Zunachst werden in Kapitel 2 die Ergebnisse der kognitionspsychologischen Forschung zu Rahmenbedingungen und Subprozessen des Sequenzlernens dargestellt. Kapitel 3 ist der Klinischen Neuropsychologie gewidmet. Hier werden neuropsychologische Theorien und Befunde aus Patientenstudien zum impliziten Lernen berichtet. Der Fragestellung der Arbeit entsprechend finden Studien mit Parkinsonpatienten besondere Berucksichtigung. Nach einer Einfuhrung in die funktionelle Magnetresonanztomographie werden in Kapitel 4 die Ergebnisse bisheriger Bildgebungsstudien zum Sequenzlernen referiert. Daraufhin werden in Kapitel 5 die Fragestellungen dieser Arbeit zusammengefaßt und prazisiert. Im anschließenden empirischen Teil der Arbeit (Kapitel 6 bis 8) werden drei Experimente dargestellt, die in jeweils einem der drei Fachgebiete ihren Schwerpunkt legen. Das erste Experiment befaßte sich mit der Dissoziation von Subprozessen des Sequenzlernens. In einem zweiten Experiment wurde versucht, die Bedingungen zu spezifizieren, unter denen bei Parkinsonpatienten Sequenzlerndefizite auftreten. Im dritten Experiment wurden Parkinsonpatienten und gesunde Probanden gleichen Alters mittels funktioneller Magnetresonanztomographie wahrend der Bearbeitung zuvor erlernter Sequenzen untersucht. Im abschließenden Kapitel 9 werden die Ergebnisse der verschiedenen Experimente zusammengefuhrt und diskutiert. Kapitel 2 Implizites Sequenzlernen Der große Teil des Erfahrenen bleibt dem Bewußtsein verborgen und entfaltet doch eine bedeutende und seine Fortexistenz dokumentierende Wirkung. BBINGHAUS (1885/1992), S.2 Im folgenden Kapitel werden zunachst kognitionspsychologische Definitionen und Kriterien impliziten Lernens vorgestellt. Da in der vorliegenden Arbeit Sequenzlernaufgaben verwendet werden sollen, wird in einem weiteren Schritt gepruft, inwieweit dieser Aufgabentypus den Kriterien fur implizites Lernen entspricht. Daraufhin werden bisherige Studien mit gesunden Probanden dargestellt, die sich mit der Frage befaßten, was in Sequenzlernaufgaben gelernt wird. Hierbei wurden zum einen der Einfluß bestimmter Stimulus- und Sequenzmerkmale auf den Lerneffekt und zum anderen verschiedene Subprozesse des Sequenzlernens untersucht. 2.1 Begriffe und Definitionen Die Beobachtung, daß wir nicht immer bewußt lernen, wurde bereits 1885 von Ebbinghaus beschrieben. Doch erst seit Arthur S. Reber (1967) berichtete, daß die grammatikalische Struktur scheinbar willkurlicher Buchstabenkombinationen en passant erlernt werden kann, beschaftigt sich die Kognitive Psychologie systematisch mit diesem Thema. Einer der haufigsten und breitesten Definitionen zufolge ist implizites Lernen dadurch gekennzeichnet, daß es inzidentell, d.h. ohne gezielte Absicht stattfindet und daß das hierbei erworbene Wissen nur schwer verbalisierbar ist (Berry Dienes, 1993). In beiden Merkmalen unterscheidet es sich vom bewußten, hypothesengesteuerten expliziten Lernen, z.B. dem Auswendiglernen von Vokabeln oder Geschichtszahlen. Obwohl sich im taglichen Leben eine Fulle von Belegen dafur finden, daß wir unbewußt mehr lernen, als wir selbst wissen, werden in der experimentellen Psychologie engere Definitionen des 7 KAPITEL 2 8 impliziten Lernens (vgl. Frensch, 1998) und die Abgrenzung zwischen implizitem und explizitem Lernen (siehe z.B. Berry, 1997; Jacoby, 1991; Willingham, Nissen Bullemer, 1989) bis heute kontrovers diskutiert. Zu recht wurde darauf hingewiesen, daß bei Nachbefragungen im Anschluß an die Bearbeitung impliziter Lernaufgaben haufig Anteile expliziten Wissens nachgewiesen wurden und daß unter inzidentellen Bedingungen nicht nur implizites, sondern auch explizites Wissen erworben werden kann (Perruchet Amorim, 1992; Shanks Johnstone, 1998; Shanks St. John, 1994). Auf diese Kontroverse soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht naher eingegangen werden. Vielmehr soll mit Cleeremans (1994) davon ausgegangen werden, daß die Bewußtheit aufgabenrelevanter Inhalte stets auf einem Kontinuum zwischen explizit und implizit liegt und rein implizites Lernen selten anzutreffen ist. Deshalb erscheint die weitgefaßte Definition von Seger (1994) angemessen, die lediglich postuliert, daß das durch implizites Lernen erworbene Wissen dem Bewußtsein nicht vollstandig zuganglich ist. Ein weiteres Kriterium dieser Definition ist die bereits eingangs erwahnte Inzidentialitat impliziten Lernens. Daruberhinaus wird beim impliziten Lernen Wissen uber abstrakte Relationen zwischen den Sequenzelementen erworben, das uber das Registrieren von Reizhaufigkeiten hinausgeht. Schließlich sollten nach Seger (1994) implizite Lernaufgaben der Prufung am klinischen Modell standhalten, d.h. bei Patienten mit Beeintrachtigungen des expliziten Lernens unbeeintrachtigt sein. Zusammenfassend bezieht sich der Begriff Implizites Lernen auf den Prozess des inzidentellen, automatischen Erwerbs von Wissen uber die strukturellen Relationen zwischen Objekten oder Ereignissen (Frensch, 1998). Der Begriff Implizites Gedachtnis bezeichnet hingegen den Zugriff auf erlerntes Wissen. Daher werden beide Bezeichnungen trotz ihrer inhaltlichen Nahe (vgl. Berry Dienes, 1991) nicht synonym verwendet. Die Unterschiede zwischen implizitem Lernen und implizitem Gedachtnis werden deutlich, wenn man die zu ihrer Untersuchung verwendeten Aufgaben vergleicht (Buchner Wippich, 1998). Aufgaben zum impliziten Gedachtnis umfassen typischerweise eine Lern- und eine Testphase (Ubersicht s. Roediger McDermott, 1993). In der Lernphase werden verschiedene Einzelereignisse prasentiert, z.B. Worter, die nach einem bestimmten Merkmal klassifiziert werden sollen. Die Testphase kann beispielsweise aus einer Worterganzungsaufgabe bestehen. Anhand der Antworten in der Testphase wird untersucht, inwieweit die Antworten der Versuchspersonen durch die Ereignisse der vorhergehenden Lernphase beeinflußt werden (Priming), auch wenn den Versuchspersonen der Zusammenhang zwischen beiden Aufgaben unklar ist. In der Regel antworten sie in der Testphase uberzufallig haufig mit den in der Lernphase prasentierten Wortern. Entscheidender Indikator in Aufgaben zum impliziten Gedachtnis ist der Abruf in der Testphase und nicht der Lernvorgang selbst. Demgegenuber erfassen Aufgaben zum impliziten Lernen eher den Prozeß des Erwerbs von Wissen uber die Relationen zwischen Einzelereignissen. Die Ereignisse selbst konnen hierbei simpel und austauschbar sein, z.B. Buchstaben oder das Betatigen von Tasten. Entscheidend ist die zugrundeliegende Struktur. 2.2. SEQUENZLERNAUFGABEN 9 In Zusammenhang mit implizitem Lernen wird in der neuropsychologischen Literatur haufig der Begriff prozedurales Lernen verwendet, der auf Tulving (1972, 1985) zuruckgeht. Dieser Begriff bezieht sich inhaltlich nicht auf die Intentionalitat oder Bewußtheit des Lernprozesses, sondern darauf, daß motorische oder nichtmotorische Fertigkeiten durch wiederholte Ausfuhrung erworben werden konnen. Prozedurales Lernen kann, muß jedoch nicht in jedem Fall implizit sein. Die beiden Begriffe sind also keine Synonyme. Die in dieser Arbeit verwendeten Sequenzlernaufgaben erfassen jedoch sowohl prozedurales als auch implizites Lernen. Der Einfachheit halber wird im folgenden auf die Doppelnennung implizit-prozedural verzichtet und der Begriff implizit verwendet, wenn es um Sequenzlernaufgaben geht. Eine Ausnahme bildet die Darstellung neuropsychologischer Befunde in Kapitel 3, wo der Begriff prozedural verwendet wird. Dies geschieht zum einen, um der Terminologie der dort zitierten Autoren zu folgen und zum anderen, weil die referierten klinischen Studien auf den Erwerb von Fertigkeiten und nicht den impliziten Charakter des Lernens abzielen. 2.2 Sequenzlernaufgaben Sequenzlernaufgaben (Serial Reaction Time Tasks, SRTs) gehoren zu den Standardparadigmen bei der Untersuchung impliziten Lernens. Sie gehen auf eine Studie von Mary Jo Nissen und Peter Bullemer (1987) zuruck. SRTs sind Wahlreaktionsaufgaben, bei denen jeder prasentierte Stimulus z.B. ein Stern, der an unterschiedlichen Bildschirmpositionen erscheint durch Betatigen einer zugeordneten Taste beantwortet werden soll. Ohne Wissen der Probanden liegt der Stimulusfolge ein bestimmtes Muster zugrunde, das zyklisch wiederholt wird. Ublicherweise reagieren Versuchspersonen nach einer Trainingsphase auf diese regelhaften Sequenzen schneller als auf Zufallsfolgen. Typische Sequenzlernexperimente bestehen aus einer Reihe von Sequenzblocken, die durch einen oder mehrere Zufallsblocke unterbrochen werden. Der Reaktionszeitabfall im Verlauf der Sequenzblocke wird als genereller Lerneffekt interpretiert, der sowohl allgemeine Trainingseffekte als auch das Erlernen der Sequenz umfaßt. Die Differenz zwischen einem Zufallsblock und dem unmittelbar vorausgehenden Sequenzblock wird als sequenzspezifischer Lerneffekt betrachtet. Dies beruht auf der Annahme, daß durch das Erlernen der Struktur die Bearbeitung der regelhaften Sequenz weniger Zeit erfordert als die Bearbeitung der Zufallsfolge. Im Anschluß an die Aufgabe wird ublicherweise eine Nachbefragung zur Erfassung des expliziten Wissens durchgefuhrt, und die Probanden werden uber das Vorliegen einer Sequenz aufgeklart. Bei Anwendung der unter 2.1 genannten Kriterien nach Seger (1994) laßt sich mit SRTs implizites Lernen messen: 1. Unvollstandige Bewußtheit Der Befund, daß auch Versuchspersonen ohne bewußtes Wissen uber die Sequenz substantielle Lerneffekte zeigen, ist vielfach repliziert (z.B. Lewicki, Hill Bizot, 1988; Willingham, Nissen Bullemer, 1989). Der Grad der Bewußtheit variiert zwischen verschiedenen Studien, da er KAPITEL 2 10 von methodischen Parametern wie der Trainingsdauer (Willingham, Nissen Bullemer, 1989), der Komplexitat der Sequenz (Stadler Neely, 1997) sowie der Prasenz und Schwierigkeit einer Distraktoraufgabe (Nissen Bullemer, 1987; Cohen, Ivry Keele, 1990; Frensch, Lin Buchner, 1998) abhangig ist. Der Vergleich unterschiedlicher Studien ist allerdings dadurch erschwert, daß zur Erfassung des expliziten Wissens unterschiedliche Maße verwendet wurden, wie offene Befragung (z.B. Lewicki, Hill Bizot, 1988), Rekognition (z.B. Stadler, 1993), freier Abruf oder schrittweise Generierung der Sequenz (z.B. Nissen Bullemer, 1987). 2. Inzidentialitat In SRT-Aufgaben erhalten die Versuchspersonen die Instruktion einer Wahlreaktionsaufgabe und werden aufgefordert, so schnell wie moglich zu antworten. Durch diese Geschwindigkeitsinstruktion soll das bewußte Testen von Hypothesen wahrend der Bearbeitung der Aufgabe eingeschrankt werden. Zwar kann nicht vollig ausgeschlossen werden, daß Versuchspersonen Vermutungen uber das Vorliegen einer Abfolge anstellen und prufen, das Lernen findet jedoch unter inzidentellen Bedingungen statt. 3. Erlernen abstrakter Relationen Eine alternative Erklarung der Ergebnisse fruher Sequenzlernexperimente ware, daß Versuchspersonen nicht die zugrundeliegende Sequenzstruktur, sondern bloße Oberflachenmerkmale der Stimulusfolgen lernen. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen. Bezeichnet man die vier Stimuluspositionen im Originalexperiment von links nach rechts mit den Ziffern 1 bis 4, so bestand die 10er-Sequenz bei Nissen und Bullemer aus der Abfolge 4231324321. Sie enthielt zweimal Position 4 und dreimal Position 3, somit unterschiedliche Stimulushaufigkeiten und Ubergangswahrscheinlichkeiten. Reed und Johnson (1994) konnten allerdings nachweisen, daß der Reaktionszeitanstieg beim Wechsel von Sequenz- zu Zufallsblocken nicht allein durch die Veranderung von Oberflachenmerkmalen erklart werden kann, sondern daß Relationen hoherer Ordnung gelernt werden. Sie verwendeten sogenannte Second Order Conditional(SOC-)Sequenzen, bei denen Stimulushaufigkeiten und Ubergangswahrscheinlichkeiten balanciert waren. Auf diese Weise wurde die Komplexitat und Mehrdeutigkeit der Sequenz erhoht: um von einem gegebenen Element auf das folgende zu schließen, wurden mindestens zwei Vorganger benotigt. Die Zufallsblocke des Experiments von Reed und Johnson (1994) besaßen die gleichen Oberflachenmerkmale wie die Sequenz. Auffalligkeiten wie das lange Ausbleiben eines Elements oder Wechselsprunge (z.B. 121212) kamen nicht vor. Auch bei Kontrolle dieser strukturellen Sequenzmerkmale zeigten sich im Experiment Lerneffekte, die die Autoren als Nachweis des Erlernes abstrakter Relationen interpretierten. 2.3. SUBPROZESSE DES IMPLIZITEN SEQUENZLERNENS 11 4. Klinische Dissoziation Bereits Nissen und Bullemer (1987) berichteten, daß Korsakoffpatienten mit schweren Storungen der expliziten Lernfahigkeit in SRT-Aufgaben vergleichbar mit Gesunden abschnitten. Auf klinische Studien zum Sequenzlernen wird in Kapitel 4 ausfuhrlicher eingegangen. 2.3 Subprozesse des impliziten Sequenzlernens Die sequenzspezifische Reaktionszeitbeschleunigung in SRT-Aufgaben wird in allen genannten Studien darauf zuruckgefuhrt, daß die Einzelereignisse der Sequenz besser antizipiert werden konnen. Daraus ergibt sich die Frage, welcher Natur die antizipierten Ereignisse sind und aufgrund welcher Merkmale ihrer Vorganger sie antizipiert werden. Mit anderen Worten: Was wird gelernt in Sequenzlernaufgaben? Dieser Frage widmete sich bereits eine große Zahl kognitionspsychologischer Studien mit gesunden Probanden. Insbesondere wurde hierbei der Einfluß bestimmter Stimulus- und Sequenzmerkmale auf den Lerneffekt und die Beteiligung verschiedener Subprozesse des Sequenzlernens untersucht. Bevor in der vorliegenden Arbeit Bedingungen und Subprozesse des Sequenzlernens bei Parkinsonpatienten untersucht werden, sollen diese Befunde zusammenfassend dargestellt werden. 2.3.1 Perzeptuelles, motorisches und raumliches Lernen Die im Originalexperiment nach Nissen und Bullemer (1987) verwendete Sequenz besitzt einige spezifische Merkmale: sie umfaßt gleichartige visuelle Stimuli, deren Abfolge den Eindruck eines einzigen, sich bewegenden Objekts erweckt und auf deren raumliche Position mit raumlich kompatiblen motorischen Bewegungen reagiert wird. Eine Reihe von Forschungsarbeiten beschaftigte sich mit der Frage, inwieweit diese Aufgabenerkmale das implizite Lernen in SRTs beeinflussen. Stimulusmerkmale. Hoffmann und Koch (1997) untersuchten die Frage, welchen Einfluß Iden- titat und Lokalisation der Stimuli auf das Lernen in SRTs haben. Die Reaktionssequenz entsprach in allen Bedingungen der Originalsequenz von Nissen und Bullemer (1987), wahrend die Merkmale der Stimuli variiert wurden. Um den Effekt der Stimulusidentitat zu prufen, verglichen sie einheitliche Sequenzen mit gemischten Sequenzen. Einheitliche Sequenzen bestanden aus den Ziffern 1 bis 4, die zentral prasentiert wurden und auf die mit vier Tasten (1 bis 4 von links nach rechts) zu reagieren war. Gemischte Sequenzen bestanden aus Zahlen und Buchstaben, wobei auf die Ziffern 1 und 2 mit Mittel- und Zeigefinger der linken Hand, auf die Buchstaben und mit Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand zu reagieren war. Die Ergebnisse zeigten, daß die Einheitlichkeit der Stimuli keinen Einfluß auf die Lernleistung hatte. Daruberhinaus variierten Hoffmann und Koch (1997) die Stimuluspositionenen nicht nur in der horizontalen, antwortrelevanten Dimension, sondern zusatzlich in der Vertikalen. Sie verglichen die Lerneffekte bei Sequenzen symbolischer Stimuli, die zufallsver- KAPITEL 2 12 teilt an unterschiedlichen vertikalen Positionen erschienen, mit denen von Stimulusfolgen, die immer am gleichen Ort erschienen. Diese konstante raumliche Entsprechung der Reiz-Reaktionszuordnung (raumliche Kompatibilitat) fuhrte zu einer allgemeinen Reaktionszeitbeschleunigung bei gleichbleibenden Lerneffekten, obwohl die antwortrelevante horizontale Dimension in beiden Bedingungen erhalten war. Aus den Ergebnissen laßt sich schließen, daß der reaktionsbeschleunigende Effekt raumlicher Kompatibilitat selbst dann auftritt, wenn die raumliche Stimulusposition irrelevant ist. Dieser Umstand ist bereits aus anderen experimentellen Anordnungen bekannt und wird als Simon-Effekt bezeichnet (Simon, 1969). Auch andere SRT-Studien weisen darauf hin, daß Stimulussequenzen verschiedenster Natur erlernt werden konnen. So wurden zentral prasentierte Buchstaben- oder Ziffernfolgen (z.B. Nattkemper Prinz, 1997; Hoffmann Sebald, 1996; Frensch Miner, 1995; Willingham, 1999) oder Worter (Hartman, Knopman Nissen, 1989) verwendet und vergleichbare Lerneffekte erzielt. Mayr (1996) untersuchte die Frage, ob in Sequenzlernaufgaben eher die Abfolge der Stimulusobjekte oder die Abfolge der Stimuluspositionen gelernt werden. Er ließ eine Gruppe von Versuchspersonen Sequenzen von acht unterschiedlichen visuellen Symbolen trainieren, die an neun unterschiedlichen raumlichen Positionen erschienen. Sowohl die Objektsequenz als auch die davon unabhangige, nicht antwortrelevante raumliche Sequenz wurden in vergleichbarem Ausmaß gelernt. Zusammenfassend laßt sich feststellen, daß Sequenzlernen bei gesunden Versuchspersonen nicht von der Gleichartigkeit oder der raumlichen Anordnung der Stimuli abhangt. Raumliche Kompatibilitat von Stimuli und Reaktionen wirkt sich allgemein beschleunigend auf die Reaktionszeiten aus, verandert jedoch nicht die Große der Lerneffekte. In bezug auf das implizite Lernen handelt es sich hierbei im Gegensatz zu den unter 2.2 genannten Merkmalen nicht um essentielle Charakteristika von Sequenzlernaufgaben. Das Lernen von Stimulusfolgen. In einer Reihe von Studien wurde untersucht, inwieweit Se- quenzlernen auf dem Erwerb von Relationen zwischen aufeinanderfolgenden Stimuli (S-S-Lernen) beruht. Den fruhesten Hinweis darauf, daß Stimulussequenzen gelernt werden konnen, ohne daß unterschiedliche Tasten gedruckt werden mussen, stellen die Ergebnisse von Hartman et al. (1989) dar. In dieser Studie sollten Versuchspersonen verbal statt durch Tastendruck reagieren und zeigten vergleichbare Lerneffekte. Dieses Resultat weist darauf hin, daß Lerneffekte nicht vom Einsatz der Handmotorik abhangen. Bei Howard et al. (1992) fuhrte allein die Beobachtung der Sequenz wahrend der Trainingsphase zu einem substantiellen Reaktionszeitanstieg im Zufallsblock1 Einschrankend ist allerdings anzumerken, daß die Lerneffekte in diesem Experiment großtenteils auf explizitem Ler1 In dieser Studie wurden altere Versuchspersonen untersucht. Zuvor hatten Howard und Howard (1989, 1992) gezeigt, daß sich der sequenzspezifische Lerneffekt bei alteren Probanden nicht von jungeren unterscheidet. Altere Versuchspersonen zeigten jedoch weniger explizites Wissen bei der Nachbefragung. IMPLIZITES SEQUENZLERNEN 13 nen beruhten, wie Willingham (1999) bei der Replikation zeigen konnte. Starker zu gewichten sind die Ergebnisse von Stadler (1989), der eine visuelle Suchaufgabe verwendete, bei der Stimuli an unterschiedlichen Orten innerhalb eines Bildschirmquadranten erscheinen konnten. Eine Veranderung der Stimulusposition innerhalb eines Quadranten minderte die Lerneffekte, eine Veranderung der motorischen Antwort bei Verwendung von zwei statt vier Fingern dagegen nicht. In drei Studien fanden sich Hinweise darauf, daß S-S-Lernen parallel und unabhangig vom Erlernen von Reaktionsfolgen (R-R-Lernen) stattfinden kann. Hierzu sind die Ergebnisse der oben genannten Studie von Mayr (1996) zu nennen, in der Versuchspersonen die Abfolge von Stimuluspositionen lernten, obwohl sie motorisch auf die Objekte reagierten. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, daß beim Erlernen der Objektfolge auch die motorische Folge von Augenbewegungen gelernt wurde, was wiederum ein Hinweis auf R-R-Lernen ware (vgl. Willingham, 1999). Dieser Einwand gilt nicht fur die Experimente von Goschke (1998) sowie Frensch und Miner (1995). In beiden Experimenten wurde die Zuordnung von zentral prasentierten Buchstaben und Antworttasten mittels einer zusatzlich prasentierten Zuordnungsvorlage von Trial zu Trial verandert. Auf diese Weise bearbeiteten die Versuchspersonen in einer Bedingung Stimlussequenzen mit zufallsverteilten Antwortfolgen und in der anderen Bedingung Reaktionssequenzen mit zufallsverteilten Stimulusfolgen. Hierbei zeigten sich unter beiden Bedingungen Lerneffekte. Diese Ergebnisse sprechen dafur, daß beide Arten von Sequenzen unabhangig voneinander gelernt werden konnen. Das Lernen von Reaktionsfolgen. Eine Reihe experimenteller Befunde weisen darauf hin, daß auch das Erlernen von Relationen zwischen aufeinanderfolgenden Reaktionen eine wichtige Rolle beim Sequenzlernen spielt. Willingham et al. (1989) verwendeten Stimuli, die anhand ihrer Farbe unterschiedlichen Antworttasten zugeordnet waren, aber an unterschiedlichen Orten erschienen (Exp.3). Den Versuchspersonen wurden entweder Sequenzen der Stimulusorte bei zufalliger Farb- und damit Reaktionsfolge prasentiert oder Sequenzen der Farb-/Reaktionsfolge bei zufalliger Abfolge der raumlichen Position. Der Reaktionszeitabfall wahrend der Trainingsphase war im Vergleich zur Kontrollbedingung starker, wenn die Farb-/Reaktionsfolge einer regelmaßigen Sequenz folgte. Die Ergebnisse werden allerdings zweifach eingeschrankt: zum einen kann nicht ausgeschlossen werden, daß die antwortrelevante Farbfolge schlichtweg starker beachtet wurde. Zum anderen fand sich bei keiner der Bedingungen ein Transfereffekt auf eine anschließende klassische SRT-Aufgabe, bei der die Versuchspersonen auf die raumliche Position gleichfarbiger Stimuli antworten sollten. Die Autoren folgerten daraus, daß in SRTs spezifische Kombinationen von Stimuli und Reaktionen (S-R-Relationen) gelernt werden. Die Ergebnisse des SRT-Experiments von Nattkemper und Prinz (1997) wurden ebenfalls als Hinweis auf die Bedeutung des R-R-Lernens gewertet. Sie verwendeten eine Zuordnung von acht unterschiedlichen, zentral prasentierten Buchstaben und vier Antworttasten, so daß auf jeweils zwei KAPITEL 2 14 Stimuli mit der gleichen Taste reagiert werden sollte. Einzelne Stimuli der Buchstabensequenz wurden durch Abweichler ersetzt. Wenn diese abweichenden Buchstaben eine andere motorische Antwort erforderten, fuhrte dies zu einem Reaktionszeitanstieg. Wenn die Abweichler die gleiche motorische Antwort erforderten, ergaben sich hingegen keine Reaktionszeitkosten. Zießler (1994) verwendete eine Kombination aus visueller Suchaufgabe und SRT und variierte die Komplexitat der motorischen Antworten. Eine Gruppe von Versuchspersonen sollte auf funf unterschiedliche Stimuli mit funf unterschiedlichen motorischen Antworten reagieren, eine andere sollte auf die gleichen Stimuli mit nur zwei unterschiedlichen Antworten reagieren. Die Lerneffekte waren bei der 1:1-Zuordnung von Stimuli und Reaktionen wesentlich großer als bei undifferenzierten Reaktionen auf die gleiche Reizsequenz. Dies wurde als Hinweis darauf gewertet, daß Abhangigkeiten zwischen Reizen nur in Verbindung mit den Reaktionen gelernt werden. Allerdings scheinen Sequenzlerneffekte unabhangig davon zu sein, welcher Effektor zur Ausfuhrung der Reaktion verwendet wird. Weder ein Wechsel von mehreren Fingern auf einen Finger (Cohen, Ivry Keele, 1990) noch von den Fingern zu einer anderen Muskelgruppe wie dem Arm (Keele, Jennings, Jones, Caulton Cohen, 1995) fuhrte zur Verminderung der Lerneffekte in einer Transferaufgabe. Willingham et al. (2000) ließen Versuchspersonen in der SRT-Trainingsphase die Hande kreuzen und berichteten, daß die Lerneffekte unabhangig davon waren, ob in einer anschließenden Transferaufgabe mit ungekreuzten Handen reagiert wurde. Das Lernen war hingegen reduziert, wenn die Sequenz beim Transfer auf die ungekreuzte Handposition die gleichen Fingerbewegungen an anderer Stelle erforderte wie in der Trainingsphase. Das Erlernen von Reaktionssequenzen laßt sich demzufolge nicht auf eine Abfolge motorischer Befehle reduzieren. Es scheint abstrakter reprasentiert zu sein, etwa in Form eines motorischen Programms. Entscheidend ist moglicherweise nicht der Effektor, der die Handlung vollzieht (z.B. Zeigefinger), sondern der Effekt, der erzielt werden soll (z.B. das Betatigen einer bestimmten Taste). Zusammenfassend finden sich in der Literatur sowohl Hinweise fur das Erlernen von Stimulusfolgen (S-S-Lernen) als auch fur das Erlernen von effektorunabhangigen Reaktionsfolgen (R-R-Lernen) in Sequenzlernaufgaben. 2.3.2 Handlungseffektlernen Wahrend sich die oben beschriebenen Studien auf die Differenzierung zwischen S-S-Lernen und RR-Lernen bezogen, schlug Zießler (1998) vor, die Verknupfung von Reaktion und darauffolgendem Stimulus als eigenstandigen Lernmechanismus zu untersuchen. Dies laßt sich sowohl empirisch als auch theoretisch begrunden. Begrundung der R-S-Lernhypothese Die Bearbeitung einer Sequenzlernaufgabe laßt sich auch als eine Abfolge von Kombinationen betrachten, die aus einer Reaktionen auf Stimulus und dem IMPLIZITES SEQUENZLERNEN 15 unmittelbar darauffolgenden Stimulus s1 besteht. Erlernt wird hierbei, daß beim Betatigen einer bestimmten Taste der Stimulus s1 mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit auftritt. Je hoher die Wahrscheinlichkeit dieses Handlungseffektes, desto besser kann Stimulus s1 antizipiert und mit einer weiteren Reaktion beantwortet werden. Auf diese Weise lassen sich die oben genannten Befunde erklaren, daß eine Erhohung der Anzahl moglicher Stimuli, die auf eine Reaktion folgen konnen, zu einer Verringerung der Lerneffekte fuhrt (Zießler, 1994) bzw. mit dem Lernprozeß interferiert (Nattkemper Prinz, 1997). In der Entwicklungspsychologie ist seit langem unbestritten, daß die Freude am Effekt einen der fruhesten und bedeutendsten motivationalen Voraussetzungen fur das Lernen von Handlungsfolgen darstellt (vgl. Oerter, 1998; White, 1959). Bereits im ersten Lebensjahr fuhren Kinder aktiv Effekte herbei und erleben dies als lustvoll. Piaget (1969) bezeichnete dieses Verhalten als sekundare Zir kularreaktion und schrieb ihm eine zentrale Bedeutung im ersten Stadium der Intelligenzentwicklung zu. Daß die Verknupfung einer eigenen Handlung mit einem zeitlich kontingenten Umweltreiz, z.B. beim Betatigen einer Klapper oder beim Herauswerfen von Gegenstanden aus dem Kinderwagen, selbstbelohnend wirkt und zu haufigen Wiederholungen fuhrt, durfte auch aus der Alltagserfahrung jedem bekannt sein, der schon einmal ein Kleinkind betreut hat. Auch in der Allgemeinen Psychologie ist der Gedanke, daß beim Lernen die Verknupfung einer Handlung mit ihren Effekten eine bedeutende Rolle spielt, nicht neu. Schon Herrmann Lotze (1852) hielt die Beobachtung fest, daß die Steuerung von Willkurbewegungen durch die Erzeugung psychischer Zustande auf der Basis fruherer Erfahrungen geschieht. Hugo Munsterberg (1889) war der Auffassung, daß es sich bei diesen psychischen Zustanden um die Vorstellung der Wahrneh mung bereits vollzogener Bewegungen handelte. Mithin wurde die Vorstellung der Handlungseffekte der Ausfuhrung der Handlung vorausgehen. Doch erst in jungster Zeit messen Theorien zur Handlungskontrolle (vgl. Prinz, 1990, 1997; Hoffmann, 1993) dem Handlungseffekten eine wesentliche Bedeutung beim Lernen zu. Prinz (1997) vertritt die Annahme, daß die kognitiven Reprasentationen von Handlungen auch deren Effekte auf die Umwelt beinhalten (vgl. Hommel, 1993). Die Reprasentationen von Handlungen und den daraus resultierenden Stimulusveranderungen haben, so die zentrale Hypothese, das gleiche Format common coding). Auf der Basis der genannten Uberlegungen merkt Zießler (1998) an, daß es eher verwunderlich ist, wie wenig Beachtung dem Lernen von Handlungseffekten (R-S-Lernen) in der Sequenzlernforschung bisher geschenkt wurde. Dies mag, wie Prinz (1997) anfuhrt, auf die ideengeschichtliche Verankerung der cartesischen Trennung zwischen afferenten und efferenten Nervenbahnen, mithin Stimuli und Reaktionen, zuruckgehen (Descartes, 1664). Im speziellen Fall der Sequenzlernforschung mag dies auch auf den Umstand zuruckzufuhren sein, daß im Originalexperiment (Nissen Bullemer, 1987) R-S-Lernen mit R-R- und S-S-Lernen konfundiert ist. KAPITEL 2 16 Experimenteller Nachweis des R-S-Lernens Um den Einfluß des R-S-Lernens gezielt zu untersu- chen, modifizierte Zießler (1998) die experimentelle Anordnung des oben beschriebenen Experiments von 1994. Versuchspersonen sollten nun in jedem Trial einen von neun Zielreizen aus einer Buchstabenmatrix heraussuchen und mit einer vorher festgelegten Reaktion beantworten. Je zwei Zielreize waren einem Finger zugeordnet, z.B. und sollten mit dem linken Mittelfinger beantwortet werden. Ziessler variierte nun systematisch die Wahrscheinlichkeit der Handlungseffekte: in der R-Skontingenten Bedingung folgte auf eine bestimmte Reaktion der nachste Zielreiz immer an einer bestimmten relativen Position, z.B. links neben dem vorhergehenden. In den anderen Bedingungen war der Ort des auf eine bestimmte Reaktion folgenden Stimulus nur mit 50%iger oder 25%iger Sicherheit vorhersagbar. Beim Ubergang auf einen Block mit zufallsverteilten Handlungseffekten zeigten sich nur in der R-S-kontingenten Bedingung Reaktionszeitkosten, obwohl keine der Versuchspersonen die Regularitat der Handlungseffekte bemerkt hatte. Auch wenn die S-S-Kontingenzen verandert wurden, z.B. das viermal haufiger vorkam als das mit dem gleichen Finger zu beantwortende N, blieb der Lerneffekt in der R-S-kontingenten Bedingung stabil. Die Befunde sprachen fur die Bedeutung des R-S-Lernens. Diese Ergebnisse konnen jedoch nicht direkt mit dem Sequenzlernen verglichen werden, da es keine regelmaßigen Reaktionsfolgen gab und die S-S-Relationen sich auf Zweierpaare reduzierten. Den direkten Vergleich zwischen R-R-, S-S- und R-S-Lernen unternahmen Zießler und Nattkemper (in press) mit Hilfe einer Sequenzlernaufgabe. Sie verwendeten eine Sequenz mit acht zentral prasentierten Buchstaben, bei der ahnlich wie bei Nattkemper und Prinz (1997) je zwei Buchstaben einer Reaktion zugeordnet waren. Auf diese Weise ließ sich bei gleichbleibender Reaktionssequenz die Komplexitat der Stimulussequenz und die Komplexitat der Reaktions-Stimulus-Relationen variieren. Die Versuchsteilnehmer wurden einer von drei Bedingungen zugewiesen, die in der gleichen Reaktionssequenz resultierten. Die Komplexitat der Stimulussequenz wurde dreistufig variiert, d.h. ein gegebener Stimulus hatte je nach Bedingung einen, zwei oder vier mogliche Nachfolger. Die Komplexitat der R-S-Sequenz wurde jedoch nur zweistufig variiert, d.h. eine gegebene Reaktion hatte einen oder vier mogliche nachfolgende Stimuli. Das Experiment enthielt mehrere intermittierende Zufallsblocke mit randomisierter S-S- bzw. R-S-Folge zur wiederholten Messung sequenzspezifischer Lerneffekte. Das wesentliche Ergebnis des Experiments war, daß das Ausmaß dieser Lerneffekte mit der Komplexitat der R-S-Beziehungen variierte. In einem zweiten Experiment wurden die Zufallsblocke durch Sequenzblocke einer der beiden anderen Bedingungen ersetzt, um einen noch direkteren Vergleich zu ermoglichen. Hierbei zeigten sich Reaktionszeitanstiege nur, wenn die R-S-Beziehungen der Sequenz in den abweichenden Blocken komplexer waren als in der zuvor erlernten Sequenz. In einem dritten Experiment konnte gezeigt werden, daß komplexere S-S-Beziehungen bei gleichbleibenden R-R- und R-S-Beziehungen den Lerneffekt nicht minderten. Umgekehrt konnte in einem vierten Experiment gezeigt werden, daß bei vereinfachten S-S-Beziehungen der Lerneffekt nicht an- 2.4. ZUSAMMENFASSUNG 17 stieg. Erst wenn die R-S-Beziehungen vereinfacht wurden, vergroßerte sich der Reaktionszeitanstieg im Zufallsblock. In der Zusammenschau sprechen die Ergebnisse dieser Experimente dafur, daß dem Erlernen von R-S-Beziehungen eine entscheidende Bedeutung beim Sequenzlernen zukommt. 2.4 Zusammenfassung Lernprozesse werden als implizit bezeichnet, wenn sie unter inzidentellen Bedingungen stattfinden, das dabei erworbene Wissen schwer verbalisierbar ist und in seinem Abstraktionsgrad uber das Registrieren von Haufigkeitsverteilungen hinausgeht. Implizites Lernen wird in der experimentellen Psychologie typischerweise mit Sequenzlernaufgaben (SRTs) untersucht, die ein Modell fur das Erlernen strukturierter Ereignisfolgen darstellen. Eine Reihe von Forschungsarbeiten hat sich mit der Frage beschaftigt, was in Sequenzlernaufgaben im Einzelnen gelernt wird. Aus der Zusammenschau der Befunde laßt sich folgern, daß sowohl Relationen zwischen aufeinanderfolgenden Stimuli (S-S-Lernen) als auch Relationen zwischen aufeinanderfolgenden Reaktionen (R-R-Lernen) gelernt werden. Raumliche Kompatibilitat zwischen Stimuli und Reaktionen beschleunigt das allgemeine Reaktionszeitniveau, verandert allerdings nicht die Große der Lerneffekte. Neuere Forschungsarbeiten zeigen, daß auch das Erlernen von R-S-Relationen, interpretiert als Handlungseffektlernen, in SRTs eine bedeutende Rolle spielt. Kapitel 3 Klinische Neuropsychologie des prozeduralen Lernens Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grun des Lebens goldner Baum. OETHE (FAUST I) Prozedurales Lernen, d.h. der Erwerb von Fertigkeiten durch Ubung, ist fur die Rehabilitation neurologischer Patienten von großer Relevanz. Daher wurden in der Klinischen Neuropsychologie eine Vielzahl von Verfahren entwickelt, um die Fahigkeit zum prozeduralen Lernen zu untersuchen. Auch Sequenzlernaufgaben gelten in diesem Zusammenhang als Instrument zur Untersuchung prozeduralen Lernens. Im folgenden Kapitel soll zunachst die Rahmentheorie dargelegt werden, vor deren Hintergrund prozedurales Lernen bei Morbus Parkinson in neuropsychologischen Studien untersucht wird. Darauf folgt eine Beschreibung der Standardverfahren zur Untersuchung prozeduralen Lernens und der Versuch, eine Taxonomie zur Einordnung dieser Verfahren zur erstellen. Anhand dieser Taxonomie wird gezeigt, daß Sequenzlernaufgaben sich in besonderem Maße zur Untersuchung prozeduralen und impliziten Lernens eignen. Im Anschluß daran werden bisherige klinische Studien zum prozeduralen Lernen bei verschiedenen Patientengruppen dargestellt, wobei Sequenzlernstudien mit Parkinsonpatienten besondere Berucksichtigung finden. 3.1 Das dichotome Gedachtnismodell von Squire Das neuropsychologische Gedachtnismodell von Larry Squire (1982, 1987, 1992) hat in der neuropsychologischen Lern- und Gedachtnisforschung der letzten beiden Jahrzehnte große Akzeptanz und Verbreitung erfahren. Das Modell postuliert zwei funktionell unabhangige Subsysteme: deklaratives und nondeklaratives Gedachtnis. Das deklarative Gedachtnis umfaßt sowohl episodisches Wis19 KAPITEL 3 20 sen uber zeitlich-ortlich definierte autobiographische Ereignisse als auch semantisches Wissen uber Fakten und Zusammenhange. Das nondeklarative Gedachtnis dagegen zeigt sich anhand erfahrungsbedingter Verhaltensanderungen, deren Erwerb und Inhalt nicht notwendigerweise bewußt sein muß. Dazu gehort nach Squire (1987) das Erlernen von Fertigkeiten, einfache Konditionierungsprozesse, Priming und nicht-assoziative Lernprozesse wie Habituierung und Sensibilisierung (vgl. Abbildung 3.1). Squire unterscheidet konzeptuell nicht zwischen den Begriffen Lernen und Gedachtnis. Die zentrale Aussage des Modells ist, daß sich sowohl die gespeicherten Informationen selbst als auch die Art der Verarbeitung in den beiden Subsystemen des Gedachtnisses grundlegend unterscheiden. In der ursprunglichen Formulierung des Modells postulierte Squire (1982), daß sich auch die Lokalisationen der beiden Gedachtnissysteme im Gehirn voneinander unterschieden. Das nondeklarative Gedachtnis sei im Striatum, das nondeklarative Gedachtnis im mediotemporalen Cortex lokalisiert. In einer spateren Veroffentlichung (Squire, 1987) schwachte er diese Aussage allerdings ab zugunsten der Annahme, daß die Strukturen von nondeklarativem und deklarativem Gedachtnis sich teilweise, aber nicht vollig uberlappten. Wahrend das deklarative Gedachtnis an eine intakte Funktion des mediotemporalen Cortex gebunden sei, verteilten sich die Strukturen, die fur die unterschiedlichen Teilfunktionen des nondeklarativen Gedachtnisses essentiell seien, im Gehirn in disseminierter Weise. Diese Teilfunktionen wurden von prozeduralen Lernaufgaben in unterschiedlichem Maße erfaßt. Gedächtnis deklarativ episodisch semantisch nondeklarativ Priming andere Konditionierung Fertigkeiten Funktionsstörung des medio-temporalen Cortex Funktionsstörung des Striatums beeinträchtigt intakt Abbildung 3.1: Gedachtnismodell nach Squire und seine Validierung mittels doppelter Dissoziation. 3.2. ENTWURF EINER TAXONOMIE PROZEDURALER LERNAUFGABEN Einfache und doppelte Dissoziation 21 Empirische Belege fur die Unterscheidung zwischen dekla- rativem und nondeklarativem Gedachtnis stammen uberwiegend aus Lasionsstudien. Bereits in den 60er Jahren wurde durch die Veroffentlichung exemplarischer Falle wie Patient H.M. (Milner, 1962) bekannt, daß trotz globaler Amnesie der Erwerb motorischer Fertigkeiten erhalten sein kann (Corkin, 1968). Somit konnte eine einfache Dissoziation von deklarativem und nondeklarativem Gedachtnis demonstriert werden. Squire (1987) schlug daruber hinaus vor, die Disparitat beider Systeme durch doppelte Dissoziation nachzuweisen. Amnestische Patienten mit Beeintrachtigungen des deklarativen Gedachtnisses bei erhaltenem nondeklarativen Gedachtnis sollten anderen Patienten gegenubergestellt werden, deren Beeintrachtigungen genau reziprok verteilt seien (vgl. Abbildung 3.1). Zu den meistuntersuchten nondeklarativen Funktionsbereichen gehort das prozedurale Lernen, von einigen Autoren auch skill learning oder habit learning genannt. Die Arbeitsgruppe um Mortimer Mis hkin folgerte auf der Basis tierexperimenteller Befunde, daß das Striatum, bestehend aus den Basalganglienformationen Nucleus Caudatus und Putamen, fur motorikbasiertes prozedurales Lernen von entscheidender Bedeutung sei (fur eine Ubersicht s. Mishkin, Malamut Bachevalier, 1986). Zum Nachweis der doppelten Dissoziation wurden daraufhin eine Vielzahl von Studien zum prozeduralen Lernen bei Amnestikern mit mediotemporalen bzw. diencephalen Lasionen einerseits und bei Patienten mit Funktionsstorungen der Basalganglien andererseits durchgefuhrt. 3.2 Entwurf einer Taxonomie prozeduraler Lernaufgaben Untersuchungsverfahren Bevor im folgenden die Ergebnisse klinischer Studien referiert werden, seien die ublichsten neuropsychologischen Untersuchungsverfahren zur Erfassung prozeduralen Lernens kurz dargestellt. Bei der Rotor Pursuit-Aufgabe sollen Versuchspersonen lernen, mit einem Stift ein auf eine rotierende Scheibe montiertes Plattchen so lange wie moglich zu beruhren. Hierbei wird die Zeitdauer des Kontakts zwischen Stift und Plattchen gemessen. Beim Maze learning sollen die Testpersonen so korrekt und so schnell wie moglich den Ausweg aus visuell dargebotenen Labyrinthen zeichnen. Das Spiegelschriftlesen ist eine Aufgabe, die keine Handmotorik umfaßt, wenngleich der gezielte Einsatz der Okulomotorik beim Lesen gespiegelter Worter die Bezeichnung nichtmotorisch als ungerecht fertigt erscheinen laßt. Ublicherweise umfaßt diese Aufgabe eine Trainings- und eine Testphase. In der Trainingsphase sollen in Spiegelschrift geschriebene Worter so rasch wie moglich gelesen werden. In der Testphase werden teils dieselben, teils neue Worter prasentiert und die Lesezeiten fur wiederholte bzw. neue Worter miteinander verglichen. Turm-Aufgaben werden ebenfalls zur Erfassung prozeduralen Fertigkeitserwerbs verwendet. Der Turm von Hanoi ist eine Strategieaufgabe, bei der eine Pyramide von funf Holzscheiben unter schiedlicher Große nach bestimmten Regeln in moglichst wenigen Zugen von einer Position in eine KAPITEL 3 22 andere verlagert werden soll. Es existieren verschiedene Varianten dieser Aufgabe, z.B. der Turm von London mit drei Scheiben oder der computergestutzte Turm von Toronto mit drei bis vier Scheiben. Allen Varianten ist gemeinsam, daß sie eine ganze Reihe von kognitiven Prozessen zur Losung dieses strategischen Problems erfordern, und daher auch zur Untersuchung exekutiver Funktionen eingesetzt werden. Die Wettervorhersage-Aufgabe (engl. Weather Prediction Task) ist eine rein perzeptuelle Lernaufgabe. Hierbei sollen Versuchspersonen anhand von Spielkartenkombinationen das Wetter vorhersagen. Bestimmte Kombinationen von bis zu 4 Spielkarten fuhren mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit zu einer bestimmten Wetterlage. In der Regel verbessert sich die Vorhersagegenauigkeit im Verlauf der Aufgabe, auch wenn die Testpersonen zu raten glauben. Schließlich wurden in den letzten Jahren auch Aufgaben aus der experimentellen Grundlagenforschung wie das Erlernen artifizieller Grammatiken und Sequenzlernaufgaben in klinischen Studien verwendet. Wie bereits in Kapitel 2 dargestellt, wird den Versuchspersonen beim Erlernen artifizieller Grammatiken eine Serie von sinnlosen Buchstabenkombinationen prasentiert, denen bestimmte Sequenzierungsprinzipien zugrunde liegen, d.h. sie folgen einer Grammatik. Meist sollen Versuchspersonen in der Trainingsphase eine Deckaufgabe bearbeiten, z.B. einschatzen, wie sehr ihnen das Item gefallt. In der Testphase sollen neue Buchstabenkombinationen, von denen ein Teil den grammatikalischen Regeln entspricht, auf Korrektheit gepruft werden. Auf Sequenzlernaufgaben wird an dieser Stelle nicht naher eingegangen, da sie bereits in Kapitel 2.2 eingehend beschrieben wurden. Im vorangegangenen Abschnitt durfte deutlich geworden sein, daß zur Erfassung prozeduralen Lernens eine große Bandbreite von Verfahren verwendet wird, die hochst unterschiedliche kognitive und motorische Anforderungen stellen. Es wird im folgenden eine zweidimensionale Taxonomie vorgeschlagen, um die genannten Verfahren anhand der bei ihrer Ausfuhrung beteiligten Prozesse zu unterscheiden. Zweidimensionale Taxonomie Anhand der kognitiven Anforderungen lassen sich zwei Gruppen von Verfahren unterscheiden. Rotor pursuit, Maze-Tests, Spiegelschriftlesen und Turm-Aufgaben sind Verfahren zum Fertigkeitserwerb skill learning im engeren Sinne). Ziel der Aufgabe und Mittel zur Zielerreichung werden in diesen Aufgaben explizit instruiert. Die Performanz verbessert sich bei Wiederholung der Aufgabe durch die Optimierung der Strategien zur Zielerreichung. Anders verhalt es sich bei der Wettervorhersage-Aufgabe, dem Erlernen artifizieller Grammatiken und Sequenzlernaufgaben. Sie unterscheiden sich in mehreren wesentlichen Aspekten von den bisher genannten. Erstens liegt der raumlichen oder zeitlichen Kombination der Stimuli ein abstraktes System zugrunde, das den Versuchspersonen nicht bekannt ist. Sie werden daher im folgenden als Aufgaben zum Strukturerwerb bezeichnet. Zweitens zeigen sich Lerneffekte unabhangig vom bewußten Strategieeinsatz. Somit erfullen nur Struktur-Lernaufgaben die unter 2.2 genannten experimentalpsycholo- KLINISCHE NEUROPSYCHOLOGIE 23 gischen Kriterien fur implizite Lernaufgaben. Drittens sind die Lerneffekte bei Aufgaben zum Strukturerwerb im Unterschied zum Fertigkeitserwerb an die spezifische Stimuluskombination gebunden. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: wahrend beim Spiegelschriftlesen nach einer Trainingsphase auch neue Worter schneller gelesen werden (vgl. Cohen Squire, 1980), fuhrt das Erlernen einer spezifischen statistischen Struktur in SRTs nicht zum Transfer auf eine strukturell andersartige Sequenz (vgl. Dominey, Ventre-Dominey, Broussolle Jeannerod, 1997). Tabelle 3.1: Zweidimensionale Taxonomie prozeduraler Lernaufgaben. Motorischer Lernindex Fertigkeitserwerb Strukturerwerb Nicht motorischer Lernindex Rotor pursuit Spiegelschriftlesen Maze tests Turm-Aufgaben Sequenzlernaufgaben Wettervorhersage Artifizielle Grammatiken Die zweite Unterscheidungsdimension betrifft die Unterscheidung zwischen Verfahren, bei denen sich das Ausmaß des Lernens in einer Optimierung motorischer Bewegungsfolgen manifestiert (motorischer Lernindex). Zu dieser Gruppe gehoren Rotor pursuit, Maze tests und Sequenzlernaufgaben. Bei den ubrigen Testverfahren wird der Lernerfolg an einem Lernkriterium wie z.B. fehlerfreie Bearbeitung oder Vorhersage gemessen. Zur dieser Gruppe gehoren die Wettervorhersage-Aufgabe, Artifizielle Grammatiken, Turm-Aufgaben und das Spiegelschriftlesen. Tabelle 3.1 stellt die Zuordnung der Verfahren zu den beiden Anforderungsdimensionen dar. Aus dieser Aufstellung wird deutlich, daß Sequenzlernaufgaben das einzige Verfahren sind, das sowohl qua Stukturerwerb implizites Lernen erfaßt als auch in einem motorischen Lernindex resultiert. 24 KAPITEL 3 3.3 Klinische Studien zum prozeduralen Lernen 3.3.1 Amnesie bei mediotemporalen und diencephalen Lasionen Die Dissoziation von deklarativem und nondeklarativem Gedachtnis bei Patienten mit Amnesie infolge mediotemporaler oder diencephaler Lasionen wurde in einer Vielzahl von Studien untersucht. Hierzu zahlen Patienten mit Hippocampektomie infolge Temporallappenepilepsie, Korsakoff-Syndrom, Thalamusinfarkt oder Morbus Alzheimer. Der Fertigkeitserwerb im Rotor Pursuit (Corkin, 1968; Brooks Baddeley, 1976; Heindel, Salmon, Shults, Walicke Butters, 1989), Maze learning (Brooks Baddeley, 1976) und Spiegelschriftlesen (Cohen Squire, 1980; Huberman, Moscovitch Freedman, 1994; Martone, Butters, Payne, Becker Sax, 1984) zeigte sich bei diesen Patienten unbeeintrachtigt. Fand das Training an unterschiedlichen Tagen statt, so erinnerten sie sich weder an die vorhergehende Lernsituation noch an die dabei gelesenen Worter, zeigten jedoch Lerneffekte durch beschleunigte Bearbeitung der Aufgabe. Im Turm von Hanoi waren amnestische Patienten mit Lasionen mediotemporaler Atiologie allerdings beeintrachtigt (Butters, Wolfe, Martone, Granhom Cermak, 1985). Die Autoren selbst raumen ein, daß dieser Befund mit den unter 3.2 erwahnten komplexen kognitiven Anforderungen der Aufgabe zusammenhangen kann. Aufgaben zum Strukturerwerb wurden ebenfalls mit Amnestikern durchgefuhrt. Bei der Wettervor hersage konnten amnestische Patienten ihre Vorhersage in gleicher Weise verbessern wie Kontrollprobanden (Knowlton, Squire Gluck, 1994). Knowlton und Squire (1994) konnten zeigen, daß die Leistungen von amnestischen Patienten beim Grammatiklernen unauffallig waren und nicht nur auf Wiederholungseffekten der gleichen Buchstabenkombinationen beruhten. Mit Sequenzlernaufgaben wurden amnestische Patienten bereits bei Nissen und Bullemer (1987) sowie bei Nissen, Willingham und Hartmann (1989) untersucht. Die Korsakoffpatienten in diesen Studien zeigten ebenso wie Patienten in den Anfangsstadien der Alzheimerschen Erkrankung (Ferraro, Balota Connor, 1993) normale Lerneffekte. R.S. Reber und Squire (1994, 1999) konnten demonstrieren, daß Patienten mit diencephalen und hippocampalen Lasionen auch ambige SOC-Sequenzen (s. 2.2) lernen konnten, ohne explizites Wissen uber die Sequenz berichten zu konnen (fur eine kritische Betrachtung s. allerdings Curran, 1997). Zusammenfassend betrachtet hat die Dissoziation von beeintrachtigtem deklarativem Gedachtnis und intakten Leistungen in prozeduralen Lernaufgaben bei amnestischen Patienten breite empirische Bestatigung erfahren. Dies gilt sowohl fur den Fertigkeits- als auch fur den Strukturerwerb unabhangig davon, ob sich das Lernen in der Verbesserung motorischer Antworten niederschlagt. 3.3.2 Chorea Huntington In Studien zum impliziten Lernen bei Lasionen des Striatums wurden uberwiegend Patienten mit degenerativen Erkrankungen untersucht: Chorea Huntington und Morbus Parkinson. Chorea Huntington ist eine autosomal-dominant erbliche Erkrankung, bei der es zu einem selektiven Verlust von KLINISCHE NEUROPSYCHOLOGIE 25 Neuronen im Nucleus caudatus und Putamen kommt. Das Gleichgewicht zwischen dem inhibitorischen GABA-ergen1 und dem exzitatorischen dopaminergen System wird gestort, wodurch es zu dem charakteristischen motorischen Symptom unwillkurlicher, uberschießender Bewegungen (Hyperkinesien) kommt. Die Behandlung erfolgt mit Neuroleptika und ist ausschließlich auf die Linderung der Symptomatik ausgerichtet, denn die Erkrankung ist unheilbar. Aus epidemiologischen Studien ist bekannt, daß bei der Mehrzahl der Patienten mit Chorea Huntington bereits in den fruhen Erkrankungsstadien eine dementielle Entwicklung einsetzt, die haufig mit psychiatrischen Auffalligkeiten einhergeht (Mayeux, Stern, Herman, Greenbaum Fahn, 1986). Bei Pillon, Dubois, Ploska und Agid (1991) wiesen beispielsweise 66% der Stichprobe massive kognitive Beeintrachtigungen auf. Sie werden auf eine Ausdehnung der degenerativen Veranderungen auf cortikale Gebiete, v.a. in Form prafrontaler Atrophien, zuruckgefuhrt (z.B. Aylward, Anderson, Bylsma, Wagster, Barta et al. 1998). Bezogen auf den Fertigkeitserwerb zeigten sich in einer Studie Beeintrachtigungen im Rotor pursuit (Heindel, Salmon, Shults, Walicke Butters, 1989). In einer Lab