Arbeitsblatt: Einführungstext zum Thema Strassenkinder in der Schweiz

Material-Details

Zum Buch Asphalt Tribe von Morton Rhue ist hier ein Einstiegsblatt, welches als Gruppenpuzzle gebraucht werden kann.
Deutsch
Leseförderung / Literatur
8. Schuljahr
4 Seiten

Statistik

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27.05.2011

Autor/in

Christine Bucheli
Land: Schweiz
Registriert vor 2006

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Textauszüge aus dem Inhalt:

Deutsch Morton Rhue Literatur AB_1 Asphalt Tribe Strassenkinder gibt es nicht nur in Südamerika, sondern auch in Zürich geschätzte 100 bis 300 an der Zahl Schauplatz Zürich. Tim* war zwölf Jahre alt und übergewichtig. Er litt unter den ständigen Hänseleien seiner Klassenkameraden, die ihn mit Vorliebe Schweinchen Dick nannten. Freunde, merkte er schnell, konnte er sich nur dann machen, wenn er Süssigkeiten, Geld oder Zigaretten zu verteilen hatte. Eines Tages konnte er etwas noch Attraktiveres anbieten: einen Joint. Mit dreizehn Jahren lief Tim von daheim fort und begann, harte Drogen zu konsumieren. Während eineinhalb Jahren hatte er nahezu keinen Kontakt zu seiner Familie und lebte in der offenen Drogenszene am Letten. Schauplatz Zürcher Oberland. Martinas* Mutter ist unberechenbar. Wenn wieder einmal eine Liebesbeziehung in die Brüche gegangen ist und sie allein und unglücklich ist, lässt sie sich gern von ihrer 15jährigen Tochter trösten. Hat sie einen Freund, der ihre ganze Energie auffrisst, behandelt sie ihr Kind wie den letzten Dreck, spricht nicht mit ihm und sperrt es tagelang aus. Das Mädchen ist dann jeweils sich selbst überlassen, denn es hat weder zu seinem Vater noch zu anderen Angehörigen Kontakt, bei denen es unterkommen könnte. Zur Zeit wohnt Martina daheim und versucht wieder einmal, in der Schule den Anschluss zu finden. Tim und Martina sind zwei Kinder beziehungsweise Jugendliche, die das Leben auf der Strasse am eigenen Leib erfahren haben. Sie wissen, was es heisst, sich durchzumischeln, zu betteln, mal bei Kollegen, im Sommer am See oder bei einem wildfremden Alki zu übernachten, den sie am nächsten Morgen auch schon mal um ein paar Franken für einen Kaffee und ein Gipfeli erleichtert haben. Manchmal, sagt Tim, sei er fast ausgeflippt vor Stolz, dass er sich monatelang ganz allein habe durchschlagen können: In solchen Momenten war ich regelrecht euphorisch. Wie beschissen es ihm wirklich gegangen sei, habe er, zugedröhnt mit Heroin und Kokain, nur selten wahrgenommen. Sogenannte Strassenkinder siedeln wir gemeinhin in Südamerika und Osteuropa an. Tatsache ist aber, dass es auch in Schweizer Städten Kinder und Jugendliche gibt, die für eine kürzere oder längere Zeit im Strassenmilieu leben, keinen festen Aufenthaltsort haben und vor allem mit den Mitgliedern ihrer Peer Group, das heisst Kolleginnen und Freunden, verkehren. Heinz Bolliger, Heimleiter der Stiftung Albisbrunn in Hausen am Albis, schätzt ihre Zahl allein für Zürich auf ein- bis dreihundert. Die Stadtpolizei Zürich nahm im vergangenen Jahr 88 Meldungen von entlaufenen, entwichenen oder vermissten Kindern beziehungsweise Jugendlichen entgegen. Ihre Kollegen von der Kantonspolizei erhielten nicht weniger als 580 entsprechende Hilferufe von Eltern, Heimen und anderen Institutionen. Flavia Schenker, Absolventin der Höheren Fachschule für soziale Arbeit HFS in Solothurn, widmete ihre Diplomarbeit dem Thema Strassenkinder in der Schweiz (1997)**. Ihre Recherchen ergaben, dass es sich dabei um eine versteckte Randproblematik mit grosser Dunkelziffer handelt. Schenker ist überzeugt, dass die Zahl der Betroffenen auf Grund der Jugendarbeitslosigkeit und des wachsenden gesellschaftlichen Drucks zunimmt. Anders als in Brasilien oder Rumänien, wo die Armut, mithin die nackte Not, schon Siebenjährige auf die Strasse treibt, werden hiesige Mädchen und Knaben mehrheitlich wegen psycho-sozialer Probleme in ihren Familien oder den Heimen, wo sie untergebracht sind, zum Abtauchen in die städtische Anonymität gezwungen. Meistens, weiss HFSAbsolventin Schenker, liegen verschiedene Ursachen vor, die sich zu einer explosiven Deutsch Morton Rhue Literatur AB_1 Asphalt Tribe Mischung verdichten: Arbeitslosigkeit der Eltern oder Jugendlichen, sexuelle, physische oder psychische Gewalt, Alkoholismus und Drogensucht, finanzielle Probleme und Wohnungsnot. Immer wieder seien auch Migranten und Migrantinnen betroffen, die, hinund hergerissen zwischen den kulturellen Werten ihrer Herkunftsfamilien und denjenigen ihres Schweizer Freundeskreises, schliesslich keinen anderen Ausweg mehr wüssten, als sich für kurz oder länger davonzumachen. Wer ausreisst, setzt damit ein unübersehbares Zeichen: Stop! So nicht! Ich brauche andere Lebensbedingungen. Das sei zum einen Ausdruck von Verzweiflung und Orientierungslosigkeit, sagt Noori Beg vom Zürcher Schlupfhuus, das Kinder und Jugendliche in einer Notlage beherbergt. Zum anderen aber auch ein Akt der Selbstbehauptung, der Mut und Energie erfordert. Oder wie es Flavia Schenker ausdrückt: Nicht alle schaffen es, auszubrechen, denn das Leben im Strassenmilieu ist wirklich hart. Ständig auf der Suche nach der nächsten Unterkunft, von Hunger, Kälte und Gesundheitsproblemen geplagt, laure, so erzählen Gassenarbeiter übereinstimmend, stets die Gefahr, in irgendwelche Abhängigkeiten zu geraten: Sei es von Drogen, der Gunst von Freiern oder Kolleginnen. Wer polizeilich ausgeschrieben sei, befinde sich zudem in der dauernden Angst, aufgegriffen zu werden. Streetworker Heinz Bachmann betreut zur Zeit einige obdach- und arbeitslose Jugendliche, die zwischen dem Zürcher Hauptbahnhof, dem Niederdorf, dem Bahnhof Stadelhofen und dem Bellevueplatz zirkulieren, betteln und sich so durch ihren Alltag mischeln. Eine zeitlang würde vielen, so Bachmann, ein solches Leben der Freiheit und des Abenteuers zusagen, aber irgendwann sei der Reiz des Bettelns und Herumlungerns dann vorbei. Wer die Nase voll und den permanenten Stress satt hat, kann in Zürich mit dem Schlupfhuus oder Mädchenhaus Kontakt aufnehmen. Das sind Einrichtungen, in denen Jugendliche für maximal drei Monate unterkommen und Hilfe beanspruchen können. Wer sich bei uns meldet, sagt Noori Beg vom Schlupfhuus, muss wissen, dass ihn ein klar strukturierter Alltag mit Regeln und Verbindlichkeiten und eine klare Absage an das Leben auf der Gasse erwartet. Die meisten ihrer Klientinnen und Klienten würden mit der Zeit denn auch in ihre Familien zurückkehren oder könnten andernorts plaziert werden. Reto Heimgartner, Leiter des Durchgangsheims Riesbach für junge Menschen in Krisen, ist seit etlichen Jahren mit einem neuen Kliententyp konfrontiert: Minderjährige, die nach dem Auszug ihrer Eltern autonom über Wohnungen verfügen, diese nicht selten innert Kürze in einen Treffpunkt für Kollegen verwandeln und unstrukturiert durch ihren Alltag stolpern. Zwölf- bis fünfzehnmal pro Jahr, sagt Heimgartner, werden uns solche Wohnungskinder überwiesen, die materiell versorgt, aber emotional vernachlässigt in Krisen geraten. Namen geändert ** Flavia Schenker und Thomas Etter, Strassenkinder in der Schweiz? Kinder und Jugendliche auf der Strasse eine versteckte Randproblematik, Edition Soziothek, 1997. Tages-Anzeiger, Nr. 65/1998 Deutsch Literatur Morton Rhue AB_1 Asphalt Tribe 5000 Strassenkinder in der Schweiz 20. November, Tag der Kinderrechte – Terre des hommes macht schweizweit mobil Am 20. November, dem Internationalen Tag der Rechte der Kinder, gehen etwa 5000 Schulkinder an rund 200 Orten der Schweiz auf die Strasse. Sie schlüpfen in die Rolle von Strassenkindern, um mit Bauchladen und Schuhputzzeug auf das Elend der 50 bis 100 Millionen Strassenkinder weltweit hinzuweisen. Organisiert wird diese Aktion von Terre des hommes – Kinderhilfe (Tdh), dem grössten Kinderhilfswerk in der Schweiz. Am 20. November werden rund 5000 Schulkinder und Jugendliche an ungefähr 200 Orten in der Schweiz für die Strassenkinder-Kampagne unterwegs sein. Aktionsschwerpunkte zeichnen sich in den Räumen Zürich, Aargau, Bern und Basel ab. In Zürich gastiert (allerdings am 22. November, 14 bis 16 Uhr auf dem Hechtplatz) für Terre des hommes der Kinderzirkus Robinson mit Animation für Kinder. In Aarau laden Stadtbibliothek und Terre des hommes am 20. November zur Aktion „Kinder schreiben für Kinder ein – ein erstmals durchgeführter Anlass, der Kindern eine Stimme geben und die UNO-verbrieften Kinderrechte propagieren will. In Basel auf dem Marktplatz tritt am 20. November eine Hiphop-Tanzgruppe auf. In Bremgarten (AG) veranstaltet ein Schulhaus einen Kinderlauf mit 200 Teilnehmenden. In Burgdorf (BE) laden 200 Schulkinder zu einer Aktion „Bitte Recht weiterschenken. In Bern und Biel sind je rund 200 Kinder mit orangen Tdh-Mützen in der Innenstadt unterwegs. Und in Meilen (ZH), wo Terre des hommes am 20. November auch eine Medienkonferenz abhält, diskutieren 220 Sekundarschüler über das Thema „Strassenkinder. 5000 Schweizer „Strassenkinder stehen ein für bis zu 100 Millionen weltweit Sie knien im Strassenstaub und putzen Schuhe, sie verkaufen im Abgasnebel von Asphaltwüsten Süssigkeiten und Zeitungen, sie verdienen als Strassenkünstler ein paar Münzen fürs Überleben: Strassenkinder. Ihre Zahl wird auf 50 und 100 Millionen geschätzt, anzutreffen sind sie in Städten der Dritten Welt, zunehmend aber auch in europäischer Nachbarschaft. In der Schweiz schlüpfen seit elf Jahren am 20. November Tausende von Kindern und Jugendlichen symbolisch in die Rolle von Strassenkindern – als Teilnehmende der Strassenkinder-Aktion von Tdh, die sich mittlerweile auch der Unterstützung von Firmen erfreut. Die teilnehmenden Schulkinder bekunden damit ihre Solidarität mit armutsbetroffenen Gleichaltrigen weltweit und regen Passantinnen und Passanten zum (Nach-)Denken und zum Spenden für die Strassenkinder-Projekte von Tdh an. Seit mehr als 20 Jahren setzt sich Terre des hommes – Kinderhilfe für Strassenkinder ein – aktuell führt Terre des hommes in sechs Ländern spezifische Strassenkinder-Projekte (Afghanistan, Brasilien, Burundi, Guinea, Madagaskar, Vietnam). 2007 investierte Terre des hommes über drei Millionen Franken in Direkthilfe, Schutz, Bildung und Integrationsmassnahmen zu Gunsten von 65 000 Strassenkindern. Terre des hommes Kinderhilfe Büro BernSchwarztorstrasse 20, CH-3007 Bern Tel.: 41.58.611.07.90 www.tdh.ch Dienstag, 18. November 2008 Deutsch Literatur AB_1 Morton Rhue Asphalt Tribe Strassenkinder auch in Zürich? Grossstädte in Entwicklungsländern und in Südosteuropa haben Strassenkinder – aber Zürich? Sozialpädagogen der Uni Zürich haben in einer Pilotstudie einen Überblick versucht. Europäische «Strassenkinder» sind im Unterschied zu jenen im Süden meist über 12 Jahre alt, stellen kein reines Armutsphänomen dar und das Leben auf der Strasse findet oft nur in Phasen statt. Gemeinsam ist aber allen «Strassenkindern», dass der öffentliche Raum den Lebensmittelpunkt darstellt, wie Adrian Ritter im Dienst der Reformierten Nachrichten schreibt. Auffällige und bisweilen als störend empfundene Jugendliche gab es in Zürich bisher in der Nähe des Hauptbahnhofes oder am Zürichsee. Diese Gruppe von «Strassenkindern» ist gemäss der Forschungsstelle Sozialpädagogik zwar die «sichtbarste, jedoch vermutlich nicht die einzige in Zürich». Unter Leitung von Thomas Gabriel suchte die Sozialpädagogischen Forschungsstelle am Pädagogischen Institut der Universität Zürich im Januar/Februar 2004 einen Überblick zu erstellen. Sie kam auf insgesamt 64 Kinder und Jugendliche. Zürich – Stadt der Gegensätze. Sie waren durchschnittlich 17-jährig, zu 61 Prozent männlich und stammten mehrheitlich aus der Stadt oder dem Kanton Zürich. Die Schweizer machten knapp die Hälfte aus, Personen aus dem Balkan ein Sechstel und jene aus Südeuropa ein Achtel. Von den noch schulpflichtigen Jugendlichen besuchten bloss fünf Prozent regelmässig die Schule! Die befragten Fachpersonen aus den Institutionen, die mit den „Strassenkinder zu tun haben, nannten vor allem Konflikte mit den Eltern, Gewalt oder den «Rauswurf» von zu Hause. Weiter wurden auch Drogenprobleme genannt. Einige Jugendliche gaben auch Nöte im Zusammenhang mit Migration an: Kulturkonflikte, Asylsuche und Kriegstraumata. Für Norbert Hänsli von der römisch-katholischen Jugendseelsorge Zürich, die die Studie in Auftrag gab, sind Jugendliche auf der Strasse „zwar kein Massenphänomen, aber doch ein Problem, vergleichbar mit Grossstädten in Deutschland. Hänsli geht bei den 64 Personen zusätzlich von einer Dunkelziffer aus. Nach einer Fachtagung am 6. Dezember soll nun eine weitere Studie erstellt werden. Quellen: Livenet/rna Datum: 22.12.2004